In Europa herrscht Krieg. Archaische Redewendungen kommen wieder in Mode. Krisen überziehen die Länder. Die Theater im Ruhrgebiet reagieren mit Tragödien über falsche Entscheidungen und daraus resultierende Hoffnungslosigkeit. Theaterintendant Johan Simons startet am Bochumer Schauspielhaus mit der Premiere „Alkestis“ von Euripides (um 438 v.Chr.), einer Inszenierung, die er vorher auf Einladung des 67. Epidaurus Festival in Athen fürs dortige Amphitheater realisiert hat. Das Stück thematisiert ziemlich „theatralisch“, dass alle Entscheidungen immer eine Kausalität nach sich ziehen, die, wenn man alle Eventualitäten bis ins kleinste Detail im Vorhinein ausschließen will, zu keiner befriedigenden Lösung führen wird. Alkestis, die stellvertretend für ihren Mann (Admetos, Herrscher über Thrakien) in den Tod ging, hatte ihm vorher prophezeit, dass sein Leben nach ihrem Ende keinen Sinn mehr machen würde, weil die Bedingungen, die sie ihm dafür stellte, dieses nicht mehr zuließen (ab 10.9., Schauspielhaus Bochum).
Um etwa die gleiche Zeit schreibt Euripides auch seine Tragödie „Die Bakchen“ (um 406 v.Chr.) Die Premiere finden wir auf dem Dortmunder Theater-Spielplan. Es ist die grausame Geschichte von Dionysos‘ Rache am Thebanerkönig Pentheus, der die Zeichen der Zeit nicht kapiert und mal eben zur Strafe zerrissen wird. Aber es ist auch die Auflösung einer Gesellschaft, die den Glauben an alles verloren hat. „Sollte er kein Gott sein, so nenne ihn trotzdem so!“ Immer das Fähnlein schön im Wind, es wird schon gut ausgehen. Mitnichten, in dieser Tragödie geht nix gut aus. Auch heute steigert sich in der Gesellschaft die monotone Ablehnung ohne Verstand immer weiter. Haben die jungen Generationen also heute überhaupt noch eine Chance auf einen wie auch immer gearteten Post-Wut-Lebensraum? Dortmunds Theaterintendantin Julia Wissert inszeniert eine Textcollage basierend auf „Die Bakchen“ und will in ihrer Bearbeitung alle Körper und Sinne zu einer intensiven Begegnung zusammenführen (ab 17.9., Theater Dortmund).
Auch am kleinen Bochumer Prinz Regent Theater hält sich die antike Tragödie am Leben. Da geht es in „Philoktet“ von Sophokles (409 v. Chr.) um den gleichnamigen Feldherrn, der von Odysseus und seinen Gefährten auf dem Weg nach Troja wegen einer unheilbaren, schwärenden Fußverletzung (böse Schlange!) und seinem ständigen Gejammer auf der einsamen Insel Lemnos ausgesetzt wird und zehn Jahre später von dort zurückgeholt werden muss, weil eine Prophezeiung das so möchte. Doch auf Odysseus ist der Recke mit dem magischen Bogen natürlich nicht gut zu sprechen… Der Künstlerische Leiter Hans Dreher inszeniert zur Spielzeiteröffnung allerdings Heiner Müllers 1965 verfasste „Philoktet“-Bearbeitung. Das Drama ist Kriegsgeschichte, Kriminalstück und Kammerspiel zugleich. Drei Schauspielerinnen spielen die Protagonisten, die zeigen sollen, dass verzweifelte Menschen, egal wie gerecht eine Sache scheint, immer auch auf unmoralische Mittel angewiesen sind.
Alle drei Inszenierungen hören sich im Kern so an, als ob sie sehr zeitgenössische Probleme ansprächen, obwohl ihre Ursprünge lange vor Beginn der neueren Zeitrechnung liegen. Das sollte uns eigentlich zu denken geben.
Philoktet | So 18.9. (P) | Prinz Regent Theater Bochum | 0234 77 11 17
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