Die Psychiatrie vermag es, einen stürmischen Ozean aus Gefühlen, Begierden und Geschichten, also einen ganzen Menschen, auf eine kurze Zeichenfolge zusammen zu schrumpfen: F60.31. Das ist der Diagnoseschlüssel für das, was der Fachmann die Borderline-Persönlichkeitsstörung nennt. Das Duisburger Regie-Duo Nadine Heinze und Marc Dietschreit haben mit „Das fehlende Grau“ ihren ersten Spielfilm diesem Menschenschlag gewidmet, herausgekommen ist ein kunstvolles Filmporträt einer namenlos bleibenden Frau (Sina Ebell).
Am 6. August waren die beiden im SweetSixteen in Dortmund zu Gast, um über ihren Film zu sprechen. „Wir wollten auf jeden Fall nicht den typischen Borderline-Film drehen“, stellt Heinze zu Beginn klar. Also auf keinen Fall ein klassisches Wandlungsdrama auf der Therapeuten-Couch, in dem eine junge Frau eine erschreckende Diagnose erfährt, sich durchkämpft und am Ende über ihre Krankheit triumphiert. Vielmehr wollten die beiden die sogenannte Persönlichkeitsstörung filmisch erlebbar machen – ohne heilsame Erlösung am Ende. So erzählt „Das fehlende Grau“ in vier kunstvoll ineinander montierten Erzählsträngen Männergeschichten der namenlosen Femme Fatale, jedes Mal ein Spiel um Kontrolle und Dominanz und ein verwirrender Tanz zwischen Nähe und Ablehnung.
Und obgleich die Figur lehrbuchtauglich sämtliche Borderline-Symptome durchlebt – vom gestörten Beziehungsverhalten bis zur obligatorischen Selbstverletzung – hatten die beiden Filmschaffenden zunächst gar nicht vor, einen Film um eine psychische Krankheit zu drehen: Zunächst sei die Idee zu der Figur dagewesen, schildert Dietschreit, erst später sei ihnen aufgefallen, dass es ein entsprechendes psychiatrisches Krankheitsbild gibt. In Internetforen recherchierten die beiden, nahmen Kontakt zu Betroffenen auf und entwickelten das blonde Irrlicht so zu Madame F60.31.
Daher rührt auch die Entscheidung, die Erlebnisse der Frau nicht chronologisch zu erzählen: „Es gibt eben auch keinen solchen Verlauf in der Krankheit“, erklärt Dietschreit. Eine harmonische Auflösung wäre außerdem, so findet es Heinze, und damit ein Schlag ins Gesicht für alle Betroffenen.
Heinze und Dietschreit wählten eine dezentere Strategie: Vieles wird nur angerissen, manche Konstellationen, wie zum Beispiel die Freundschaft der Protagonistin zu einem jungen Mädchen, bleiben nahezu vollkommen im Unklaren und über ihre Lebensgeschichte erfährt der Zuschauer rein gar nichts.
Ein stilistischer Kniff, der den Kinobesucher in die gleiche Situation bringt wie die Männer der Geschichte: Eingeschüchtert vom Selbstbewusstsein dieser Frau, verängstigt von ihrer Unberechenbarkeit und absolut unsicher darüber, wer sie eigentlich ist. Dass die Hauptfigur so zur reinen Projektionsfläche für Fantasien aller Art wird, ob diese Mystifizierung des Wahnsinns angemessen ist – darüber lässt sich streiten. Aber genau so wollten es die Macher: „Wir wussten, dass sich Leute über den Film aufregen würden“, sagt Dietschreit.
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