Soldaten der US-Armee schlendern über eine Landstraße. Die Helme baumeln lässig an ihren Uniformen herunter. Der Krieg gegen Nazi-Deutschland ist vorbei. Und was steht nun an? „Ich mache erst mal eine Weltreise“, erzählt der eine. Gefolgt von den Plänen des anderen: „Erst mal ein Praktikum“. Der dritte Vorschlag: „Schön abfeiern“. Es ist eine der vielen surrealen Einsprengsel, mit denen das Regie-Duo Emma Rosa Simon und Robert Bohrer die Tagträume ihres Protagonisten Lenz (Eric Klotzsch) bebildern. Innerlich vergleicht er sich mit seinem Vater, der noch das Kriegsende miterlebte. Bevor die Weichen von Vaters Werdegang irgendwie fest gemeißelt schienen: Karriere, Frau und Familie. „Wie es sich gehört“, raunt das Familienoberhaupt später auf seinem Geburtstag.
Nicht so für „Lenzi“, wie ihn seine Freunde nennen. Der 30-Jährige verkörpert den klassischen Kreuzberger Slacker: ausdauerndes Schlendern durch die Straßen und eine Absage an Berufspläne. Stattdessen: wenig Verantwortung, dafür großzügiger Drogenkonsum und Besuch von Partys. Auf einer lernt er Ira (Lana Cooper) kennen. Und wie diese Begegnung das Leben innerhalb eines Jahres das Leben dieser beiden auf den Kopf stellt, davon erzählt dieser Film mit dem herrlich bescheidenen Titel „Liebesfilm“.
Regie führte ein Liebespaar: Emma Rosa Simon und Robert Bohrer. Beide schrieben auch gemeinsam das Drehbuch, bevor sie den Streifen als Abschlussfilm an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin vorlegten. Robert Bohrer erschien im Anschluss an der Vorstellung im Dortmunder Programmkino sweetSixteen für ein Publikumsgespräch. Seine Freundin und Ko-Regisseurin war spontan verhindert. Und wer den Filmemacher an diesem Abend ausfragt, wie sehr sie mit ihrem Abschlusswerk auch eine Darstellung der so oft diagnostizierten „Generation Y“ beabsichtigt haben, erhält erst mal eine ernüchternde Antwort: „Ein Generationsporträt sollte es nicht sein“, erzählt Robert Bohrer. „Es standen eher die persönlichen Erfahrungen im Vordergrund, es hat autobiographische Elemente.“ Bohrer erwähnt Dennis Hoppers „Easy Rider“, ein Road-Movie, der erst später als Leinwand-Manifest über den Freiheitsdurst der 68er interpretiert wurde: „Die wollten ja auch nicht direkt etwas über ihre Generation sagen.“
Freiheit und Freiräume will auch der erwähnte Lenz ausleben. Mit Ira hat er nur Sex, wie er meint. Doch die IT-Expertin möchte mehr. Sie will ein Kind bekommen, die nächste Etappe im Leben beginnen. Und zwar mit dem Tagträumer „Lenzi“. Doch der zeigt sich nicht so begeistert davon, sich von der K-Frage aus seinem bisherigen Kreuzberger Lebenszyklus reißen zu lassen: „Da kann man ja gleich nach Ost-Deutschland ziehen, außerhalb des S-Bahn-Rings.“
Und die harte Realität da draußen? Sie dringt nur tagträumerisch in diesen Schwebezustand ein. Das erste Kapitel trägt den Titel: „Wer erschoss Osama Bin Laden oder der lange Sommer der Liebe.“ Denn die Ereignisse aus diesem Jahr dringen nur in surrealen Schüben in Lenzis Alltag ein: Taliban-Kommandanten stehen plötzlich in der WG und die Concordia liegt mit Breitseite in der Spree, während sich die beiden Liebenden im Laufe des Jahres 2011 annähern, entfernen und wieder annähern. Immer präsent ist dabei die Berliner Kulisse: Emma Rosa Simon und Robert Bohrer inszenierten auch einen Liebesfilm über die Hauptstadt. Wie einst Woody Allen in „Manhattan“ huldigen sie dem Flanieren durch belebte Straßen, Verabredungen in Museen oder Bootfahren in Parks. Ein Film über einen Zeitgeist, als Kreuzberger Mieten noch finanzierbar waren. „So wie Lenz da lebt, ist das heute nicht mehr möglich“, sagt Bohrer. „Das ist ja fast schon melancholisch.“ Damit meint der Regisseur auch den Wandel der Drehorte. Denn diese sind grauen Hochhauskomplexen gewichen. Und dort wird sich kaum wer so schön verlieben.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Diskursive Leinwand
Kino als Raum und Kunstform am European Art Cinema Day – Kino 10/18
Einfühlung gegen die Entfremdung
„Grenzgänger“ am 11. und 18. Dezember im SweetSixteen in Dortmund – Foyer 12/17
Mut gegen Ohnmacht
Nachwuchs-Filmemacherin Asli Özarslan zeigt „Dil Leyla“ im sweetSixteen – Foyer 06/17
Narvik, mon armour
Stranger than Fiction mit „Erzähl es niemandem!“ am 2.2. im SweetSixteen – Foyer 02/17
„Dinge verstehen statt Rollenbildern folgen“
„Die Hände meiner Mutter“ am 2.12. im sweetSixteen – Foyer 12/16
Sex und Arbeit
Filmvorführung von „SEXarbeiterin“ im sweetSixteen mit Debatte über Prostitution – Foyer 03/16
Erlebnis ohne Erlösung
Regie-Duo Heinze und Dietschreit über ihr Spielfilmdebut „Das fehlende Grau“ – Foyer 08/15
Sein Film und sein Herz
Süleyman Özdemir präsentierte am 19.6. sein Regiedebüt im sweetSixteen Dortmund – Foyer 06/15
Blutige Kohle
„Das gute Leben“ im sweetSixteen Dortmund – Foyer 05/15
Zahlbar in Lebenszeit
„Von der Beraubung der Zeit“ im sweetSixteen Dortmund – Foyer 04/15
Wem gehört die Stadt?
„Buy Buy St. Pauli" im sweetSixteen Dortmund – Foyer 02/15
Rassismus vs. Selbstbestimmungsrecht
„Orania“ im sweetSixteen Dortmund – Foyer 06/13
Hagener Bühne für den Filmnachwuchs
„Eat My Shorts“ in der Stadthalle Hagen – Foyer 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
Der Sieg des Glaubens
„Führer und Verführer“ im Kölner Odeon mit Regisseur Joachim Lang – Foyer 07/24
Lichtspiele mit Charme
Eröffnung der Ausstellung „Glückauf – Film ab!“ im Ruhr-Museum – Foyer 07/24
Der Tod, der uns verbindet
NRW-Premiere von Eva Trobischs „Ivo“ – Foyer 06/24
Bären für NRW-Filme?
21. NRW-Empfang im Rahmen der 74. Berlinale – Foyer 02/24
Sieben Spitzenprämien-Gewinner
Kinoprogrammpreis-Verleihung in der Wolkenburg – Foyer 11/23
Verfilmung eines Bestsellerromans
„Die Mittagsfrau“ im Casablanca Bochum – Foyer 10/23
Mysteriöses auf schottischem Landsitz
„Der Pfau“ im Cinedom – Foyer 03/23
Alle Farben der Welt
37. Teddy-Award-Verleihung bei der 73. Berlinale – Foyer 02/23
Drei NRW-Filme im Berlinale-Wettbewerb
20. NRW-Empfang im Rahmen der 73. Berlinale – Foyer 02/23
Hochwertiges deutsches Filmschaffen
Verleihung des Preises der Deutschen Filmkritik 2022 auf der Berlinale – Foyer 02/23