Begonnen hatte das Projekt als Geschenk zum 40. Jubiläum des türkisch-deutschen Schriftstellers Kemal Yalçın – ohne finanzielle Unterstützung durch eine Produktionsfirma oder andere Sponsoren. Süleyman Özdemir machte sich, gerüstet mit einer Handkamera, auf eine 20-monatige Reise, um Yalçıns Lebensweg vom anatolischen Denizli über Griechenland bis ins Ruhrgebiet nachzuzeichnen. Der unangepasste Schriftsteller flüchtete 1981 aus politischen Gründen nach Deutschland und arbeitet seit 1989 als Türkischlehrer in Bochum. Der Grund für Yalçıns Unangepasstheit: Seine Lehrer hatten ihn in der Schule ermahnt, er solle die Wahrheit sagen. Dass diese sich jedoch nicht immer in türkischen Geschichtsbüchern wiederfindet, lernte Yalçın schnell.
In seinem schriftstellerischen Werk thematisiert der Autor die Verfolgung von Minderheiten in der Türkei, immer auch inspiriert von persönlichen Erfahrungen. Da ist beispielsweise „Die anvertraute Mitgift" ehemaliger griechischer Nachbarn seiner Eltern, die bei deren Vertreibung aus der Türkei bei Yalçıns Mutter verblieb und die Yalçın selbst Jahrzehnte später zu eben dieser Familie nach Griechenland zurückbrachte. Dieses Ereignis habe sein Bild von der Türkei nachhaltig verändert und ihn dazu bewogen, sich mit dem griechisch-türkischen ‚Bevölkerungsaustausch' der 1920er Jahre zu beschäftigen.
In seinem Buch „Haymatlos" machte er sich schließlich auf die Suche nach jenen deutschen Juden, die unter nationalsozialistischer Herrschaft in die Türkei geflohen waren, dort jedoch als deutsche Staatsbürger 1944 ausgewiesen oder als staatenlos – haymatlos – erklärt und interniert wurden. Am Beispiel des Anwalts und Übersetzers Cornelius Bischoff wird dieser Abschnitt türkisch-deutscher Geschichte in der Dokumentation thematisiert. Aber auch die Völkermorde an Armeniern und Aramäern während des Ersten Weltkrieges will Yalçın in seinen Büchern aufarbeiten, etwas, das in der Türkei bis heute unmöglich erscheint und immer wieder politischen Zündstoff birgt. Neben den politischen Diskursen rund um die türkische Anerkennung der Völkermorde gibt es eben noch die alltäglichen sozialen Ausgrenzungen, die bis heute anhalten. Das beweisen eindrücklich die Erzählungen einer Sozialwissenschaftlerin, der eine feste Anstellung an der Universität verwehrt wurde, da sie Armenierin ist. Dadurch sah sie sich gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen.
Dem Regisseur Süleyman Özdemir liegt es am Herzen, die Geschichten von Menschen zu erzählen, die entweder in der Diaspora leben oder deren Leben nachhaltig davon beeinflusst wurde, so wie Kemal Yalçın dies in seinen Büchern tut. So fungiert die Dokumentation „Stift und sein Herz" nicht nur als Zeugnis über Yalçıns Werdegang, sondern erzählt davon ausgehend viele weitere Lebenswege, die dem Zuschauer die Aufarbeitungslücke dieser zerstörerischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts in Erinnerung rufen. Für Yalçın ist die Aufarbeitung dieser Leerstellen in der türkischen Geschichtsschreibung eine Frage von Humanität und Brüderlichkeit, die an keine Religion oder Nationalität gebunden ist. Genauso sollte auch das Publikum die Botschaft des Regisseurs verstehen.
„Sein Stift und sein Herz" | 23. u. 24.6. jeweils 21 Uhr | sweetSixteen Dortmund | www.sweetsixteen-kino.de
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