Das gab es lange nicht mehr. Ein Abend, der aus der kosmischen Hintergrundstrahlung geboren schien. Der zwischen Hier und Dort und Schein und Sein nicht mehr unterscheiden wollte. Fred wird geboren, während er stirbt, dazu Passagen aus der Genesis. Gleichzeitig, realistisch und doch weit voneinander entfernt. Nach Sekunden wird klar, diese Video-Bilder lassen nur eine Assoziation zu: Bill Violas „Nantes Triptych“ von 1992, da sind die Abläufe ähnlich mit nur einem Unterschied: Sie haben in der Realität tatsächlich stattgefunden. Kay Voges aber inszeniert im Dortmunder Theater eine Vision von Möglichkeiten. Zwischen Quantentheorie und Feldgleichungen der allgemeinen Relativität prallt eine Hochzeitgesellschaft über eine Einstein-Rosen-Brücke auf sich selbst. Das Existenzielle gerät ins Wanken, die Geister aller Epochen befinden sich in einem Raum, und weil im Weltall nichts verloren geht, schenkt Voges dem Publikum in Dortmund (Schauspiel Dortmund) und Berlin (Berliner Ensemble) auch die effektive Gleichzeitigkeit des Zuschauens.
Bevor jetzt jemand abgeschreckt wird, der Abend ist ein großartig, köstlicher, inhaltlich wie visueller Parforceritt durch die Chancen, die uns vielleicht Partikel in Raum und Zeit eröffnen, wenn wir sie denn tatsächlich entschlüsseln könnten. Theoretische Physik hin oder her, mein Kopf wollte zwei Stunden lang überhaupt nicht aufhören alle Daten zu sammeln. Natürlich bleibt bei so einer Konstruktion das eigentliche Erzählen ein wenig auf der Strecke, Fred hin oder her, Hochzeit ja oder nein, das spielte keine Rolle angesichts der Frage nach Verbindungen von endlosen Parallelwelten und einem Dauerstakkato an Zitaten und implantierten Botschaften, und mancher Ablauf erinnert zwangsläufig auch an den Film „Interstellar“ (2014). Witzig, wenn die beiden Gesellschaften das erste Mal aufeinandertreffen. So einfach ist die Vorstellung von Materie als reine Schwingung in der Gravitation nämlich nicht. Schon gar nicht wenn die Braut auf ihrer eigenen Hochzeit nicht in den Hintergrund gedrängt werden will. Monströse Quanten lachen sich derweil im Raum kaputt, während Depeche Mode (Enjoy the Silence) und die Einstürzenden Neubauten (Stella Maris) die Handlung zwischen Currywurst-Analyse und Schrödingers wohl doch toter Katze runterkühlen.
Kay Voges bleibt trotz seiner Nähe zum digitalen Maximum – das kann man natürlich in einem Theater diskutieren – dramaturgisch an der eigenen Textversion (zusammen mit Alexander Kerlin und Eva Verena Müller), die natürlich erst einmal das Reale Schauspiel fordert. Ob die versteckte überregionale Werbung, die Inszenierung an zwei weit voneinander entfernten Häusern spielen zu lassen, notwendig gewesen ist, kann man verneinen und als Zubrot hinnehmen. Es schadet weder dem viergeteilten Bühnenbild, noch der Choreografie durch die endlosen virtuellen Räume, und die Zuschauer hatten viel Spaß beim Einlass. Die großen letzten Fragen der Menschheit konnten mit der Visualisierung der letzten physikalischen Erkenntnisse wieder nicht gelöst werden. Ob das einen schon fast frenetischen Applaus notwendig macht, fand das Berliner Publikum wohl nicht. Die sind eben alle noch analog und nicht am kritischen Punkt der Theater-Digitalisierung.
„Die Parallelwelt“ | R: Kay Voges | 28.10. 18 Uhr, 31.10., 16.11. 19.30 Uhr | Theater Dortmund | 0231 50 27 222
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