Es war eine Begegnung, die Michael Göring nachhaltig beeindruckte. Als Vorstandsvorsitzender der gemeinnützigen Zeit-Stiftung traf er bei einem Integrationsprojekt auf einen jungen Syrer. Erst seit vier Monaten hatte der zu diesem Zeitpunkt Deutsch gelernt. Und korrigierte sich bereits selbst: „Das Verb im Nebensatz muss ans Ende“, bemerkte er prompt seinen Syntax-Fehler im Gespräch mit Michael Göring. Der Autor war beeindruckt und erwähnt die Anekdote an diesem Abend, um seine Inspiration für seine literarische Arbeit in den Septembertagen von 2015 zu betonen, als sich Bundeskanzlerin Merkel für eine Grenzöffnung entschied.
Tausende Menschen flüchteten in die Bundesrepublik. „So traf ich junge Menschen, die zu uns gekommen waren“, erinnert sich Göring an sein Engagement in der Integrationsarbeit: „Da wusste ich, dass diese Flüchtlingsgeschichte zentral sein wird für diesen Roman.“ Und während seit diesem Spätsommer so manche ChristdemokratInnen noch bis heute über orbanistische Alternativen zu Merkels humaner Entscheidung streiten, machte sich Michael Göring an sein bereits viertes Werk. Entstanden ist „Hotel Dellbrück, ein über 400 Seiten dicker, historischer Roman.
Um eine ähnliche Begegnung dreht sich auch das erste Kapitel seines Romans, aus dem Göring an diesem Dienstagabend im Medienforum des Bistums Essen liest. Sein Protagonist Friedemann Rosenbaum, kurz Frido, kehrt aus Australien zurück in seinen Heimatort Lippstadt. Hier sucht er das alte Bahnhofshotel auf, das einst seiner Familie gehörte. Doch das wird nun als Flüchtlingsheim genutzt, wie ihm Djad, ein junger Syrer, verrät, als er in die Unterkunft eintritt. Beide kommen ins Gespräch, über ihre Vergangenheit oder ihre Familie. Bis Frido über die Geschichte seines Vaters spricht: „er ist wie du als unbegleiteter Jugendlicher aus seinem Heimatland nach England geflohen. Juden sind hier damals verfolgt und ermordet worden.“ So ragen die jüngsten Erfahrungen junger Geflüchteter in das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte, das Göring in seinem historischen Roman beleuchtet.
Nicht zum ersten Mal: Flucht und Exil, Identität und Bindung, das sind die Themen, um die sich Görings Prosawelten drehen. Vor allem letzteres, wie der gebürtige Lippstädter in Essen erzählt: „In meinen Büchern geht es immer um das Thema Bindung.“ Und das wird in „Hotel Dellbrück“ zwar mit fiktiven Figuren verhandelt. Doch der Hintergrund, die Flucht tausender jüdischstämmiger Kinder, von der Dellbrück in späteren Kapiteln erzählt, ist real. Insgesamt 10.000 Verfolgte aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei erhielten in den späten 30er-Jahren Visa von der britischen Chamberlain-Regierung. Für sie war es Rettung und schmerzhafter Abschied zugleich: „In der Tat war es so, dass die Eltern ihre Kinder nicht bis zum Zug begleiten durften“, so Dellbrück. „Die Nazis hatten Angst vor entsprechenden Szenen am Bahnhof.“
Wie sich Sigmund, Fridos Vater, vor diesem Hintergrund in der neuen britischen Heimat zurechtfindet, das spinnt Göring aus der Warte eines klassischen, auktorialen Erzählers, der die verschiedenen Schicksale in der Geschichte elegant verwebt. Da gehe es auch um Erinnerungskultur, die vor allem jüngere Leser ansprechen solle. Und zwar ohne moralischen Zeigefinger, so der Schriftsteller: „Ich möchte auch eine schöne Geschichte erzählen und den Leser unterhalten.“ So lädt diese Lektüre ein, die turbulenten Septembertage im Jahr 2015 im Licht der deutschen Geschichte zu verstehen. Ohne langweilige Argumente.
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