Es gibt so Abende im Theater, da wünscht man sich nach wenigen Minuten wenigstens eine harte römische Kline zur Erbauung, selbst wenn die Inszenierung nur eine Stunde dauert. Im Dortmunder Theater dauert Dostojewskis „Dämonen“ (Bühnenfassung von Sascha Hawemann und Dirk Baumann) gleich viere und dennoch war von einem gerutscht-geröteten Hinterteil keine Spur. Fiebrig raste das Ensemble durch die Fluten aus Text und Choreografie, gespannt und eifrig versuchte der Zuschauer Dialoge bei kryptisch russischen Namen immer den richtigen Protagonisten zuzuordnen und zunehmend auch Handlungsstränge auf der abstrakten weißen Bühne mit einem riesigen mobilen kyrillischen Buchstaben oder rollenden Klavier zu verorten. Einige jüngere Zuschauer verließen als erste das Theater, klar – Dostojewski und Twitter – da liegen Universen der Kommunikationspraktik zwischen, doch viele blieben auch angesichts des Spektakels, das die irren Geister dort im Scheinwerferlicht veranstalteten.
Schon der Beginn ist verstörend. Minutenlang ist nur Bewegung auf der Bühne, Kleiderständer werden hin und her geschoben, die Wände gestreichelt. Alle Protagonisten tauchen auf, verschwinden wieder. Währenddessen liegt Frank Genser als epileptischer Geist Nikolaj Stawrogin zuckend an der Rampe. Schon hier wird klar, das werden keine anstrengenden Rededuelle, Regisseur Sascha Hawemann setzt auf starke wechselnde Bilder mit vielen Facetten. Dann geht’s los. Anton Lawrentjewitsch (Uwe Schmieder) deklamiert ein längeres Intro, der in die Zustände und Querverbindungen der kleinen Kommune nahe St. Petersburg einführt. Es geht um Gott und die Welt im absoluten Sinne, die Welt schein aus den Fugen. Und Gott? Nun ja auch ihm scheinen die Menschen aus den Fingern geglitten zu sein, die Generationen prallen schutzlos aufeinander und Genser zuckt immer noch. Millionen Menschen sollen fürs neue, politische Ideal jenseits der Monarchie dran glauben, die alte Ordnung schwelgt dennoch lieber in der Erinnerung. Dämlicherweise machen auch private Verstrickungen die Dispute nicht leichter.
Und so geht die Reise durch die tausend Romanseiten Dostojewskis immer weiter, bis die bösen Wesen in den Köpfen der Menschen die Welt im dritten Teil ins Chaos gestürzt haben. Auslöser bleibt eigentlich der allseits beliebte Nikolaj Stawrogin (bleibt stundenlang grandios: Frank Genser), verhätschelter Sohn der reichen Witwe Warwara Petrowna (Friederike Tiefenbacher), der nach seiner Rückkehr aus dem Ausland von allen umworben wird, der aber wohl aus Neugier und Selbstbestrafung die verkrüppelte und geisteskranke Marja geheiratet hat und sich so auch den zur Zarenzeit üblichen Standesdünkeln entziehen wollte. Hawemann spielt mit der theatralischen Überforderung, die oft nur boshaft Bruchstücke liefert, wo eigentlich Erkenntnis gefragt wäre. Und das hat System, auch bei den Bildern, die er auf der Bühne generiert. Da hängen Mäuse am Kreuz, schmieren sich die Revoluzzer auf weißer Wand eine ganz neue Stadt. Shakespeare, Malerei, blutige Exzesse und eklige Eimerinhalte bilden den Klebstoff, der die Inszenierung über so lange Zeit zusammenhält. Und als Krönung mittendrin die alltägliche Lebenslüge ohne Happy End von Feingeist Stepan Werchowenkij (Andreas Beck) und der reichen Witwe, und am Ende mal wieder ein hüllenloser Uwe Schmieder. Was ist das? Ein schöner, wüster Abend, keine Minute zu lang.
„Dämonen“ | R: Sascha Hawemann | Sa 22.2. 18 Uhr | Theater Dortmund | 0231 50 27 222
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