Zuweilen gibt es noch immer diesen nostalgischen Blick auf den wirtschaftlichen Aufschwung, der sich in der Konsolidierungsphase der Bundesrepublik einstellte: Klar, es gab Altnazis in Regierungsämtern und ein „Talaren-Muff von tausend Jahren“ durchwehte die Gesellschaft. Zumindest bis zur 68er-Revolte. Aber es gibt auch diese rosarote Erinnerung an den Wohlstand, an die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt, ihre Bildungsversprechen durch Bafög oder Gesamtschulen, Reformen, die damals sogar die FDP unterstützte.
Christian Baron erwähnt diesen gesellschaftlichen Kontext bei seiner Lesung im Rahmen des Festivals Literaturdistrikt, früher Literatürk. Schließlich entführt sein aktueller Roman „Schön ist die Nacht“ in die 1970er Jahre der BRD. Im Mittelpunkt stehen zwei Freunde, die beiden Arbeiter Willy Wagner und Horst Baron. Der Zimmerer Willy will „anständig“ bleiben, er träumt davon, seiner Familie durch ehrliche Arbeit ein Haus zu ermöglichen. Horst dagegen kämpft sich mit Gelegenheitsjobs oder krummen Dingern durch; er schlägt seine Kinder und landet zwischendurch im Knast.
Vermeintliche Wohlstandsoase
Beide Figuren tauchen am Rande bereits in Christian Barons Vorgängerbuch auf, ein „Mann seiner Klasse“, kein Roman, aber eine literarische Anknüpfung an einen Trend aus Frankreich: als autofiktive Auseinandersetzung mit der Herkunft aus der Arbeiterklasse, vor allem mit autoritären Vaterfiguren, wie sie etwa Édouard Louis oder Annie Ernaux schildern.
Dass sich diese beiden Figuren nun durch die BRD der 70er Jahre abstrampeln, wirft wiederum ein anderes Licht auf die vermeintliche Wohlstandsoase: „Wenn ich auf das damalige Leben meiner Klassenfraktion schaue, erscheint es deutlich differenzierter“, so Baron im LeseRaum in der Akazienallee in Essen, wo er aus seinem Roman las. „Heute bezeichnet man diese Menschen als working poor, aber dieses Phänomen gab es schon damals – auch wenn es nicht so weit verbreitet war.“
Von der Armut und Ausbeutung waren jedoch insbesondere diejenigen Menschen betroffen, die durch das „Gastarbeiterabkommen“ in die BRD gelockt wurden: als Dumpinglohnarbeitskräfte. Baron lässt sie in seinem Roman etwa mit der Figur des Ömer auftreten, ein strebsamer Kollege. Doch wie andere türkischen Arbeitskollegen sorgt er mit Fleiß unter der Belegschaft für Streitigkeiten über Lohndrückerei und Spaltung; ein Motiv, das Baron auch am Beispiel des wilden Ford-Streiks 1973 in Köln aufgreift.
Wohlstand durch Ausbeutung
Denn nicht nur die Bild-Zeitung hetzte gegen die „Gastarbeiter“, die damals von den Gewerkschaften im Stich gelassen wurden – auch Arbeiter waren skeptisch ob des wilden Streiks, wie Baron im Roman anhand der erlebten Rede von Willy eröffnet: „Er selbst hatte auf der Seite des Betriebs gestanden. Nicht, weil er den Arbeitern Böses wollte, aber was, wenn Ford entschieden hätte, die Produktion in Deutschland komplett aufzugeben? Da hätten sie dumm aus der Wäsche geguckt, die streikenden Türken.“
„Man versteht den Kampf innerhalb einer Klasse nicht ohne diese Auseinandersetzungen“, so Baron, „Willy steht für die deutschen Gewerkschaften, die den Streik niedergerungen haben.“ Der Schriftsteller zitiert in den Kapitelüberschriften nicht nur Verse wie „Wer im Stich läßt seinesgleichen“ aus dem von Brecht verfassten und von Ernst Busch performten „Solidaritätslied“ – was sich wiederum als Reminiszenz an die proletarische Literatur der 1920er lesen lässt. Mit Willys Mutter Hulda lässt Baron zudem eine überzeugte Bolschewikin auftreten, die vor 1945 dem Terror der Nazis ausgesetzt war. Entsprechend zielt sie im Roman mit einer Arbeitskampfrhetorik auf Entwicklungen in der BRD – etwa mit ihrem Plädoyer für den Ford-Streik, ein Versuch der „Gastarbeiter“, einen Arbeitskampf einzuläuten. Deren prekäre Rolle hat im Wirtschaftssystem eine Funktion, wie auch Baron nahelegt: „Dieser Wohlstand in der Bundesrepublik wurde durch die Überausbeutung einer Gesellschaftsgruppe erkauft.“
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