Filmstunde_23
Deutschland 2024, Laufzeit: 82 Min.
Regie: Jörg Adolph, Edgar Reitz
Filmvermittlung mit Zeitreise
Von der Notwendigkeit der Filmbildung
„Filmstunde_23“ von Edgar Reitz und Jörg Adolph
Ein Klassenzimmer. Überall stehen Mikrofone herum. Schüchtern lächelnd blicken die Schülerinnen in die Kamera und wenden gleich wieder geniert den Blick ab. Am Lehrerpult steht ein Mann, Mitte dreißig. Er erklärt die verschiedenen Möglichkeiten der Kamerabewegung und fragt nach ihrer jeweiligen Wirkung. Er lässt die Schülerinnen Gegenstände beschreiben – einmal mit geschriebenen Worten, dann filmisch und fragt, welche Aspekte filmisch und welche sprachlich besser zu erfassen sind. Aber eigentlich, so erklärt der Mann, sei Film auch eine Sprache. Dann stellt er Fragen: „Wie würdest Du das filmen?“. „Wer von Euch würde es anders filmen?“. „Was ist der Unterschied?“.
Das Klassenzimmer, in dem das alles passiert, befindet sich in einer Mädchenschule in München. Die Mädchen sind zwischen 13 und 14 Jahre alt. Der Mann am Lehrerpult ist 35. Er heißt Edgar Reitz. Es ist das Jahr 1968. Reitz hat das Projekt mit seinem Film „Filmstunde“ dokumentiert. 55 Jahre später blickt er nun zurück. Mit einem Zitat des Filmkritikers Béla Balsz beginnt „Filmstunde_23“: „Solange Film nicht an der Schule gelehrt wird, nehmen wir die wichtigste Revolution der menschlichen Bildung nicht zur Kenntnis.“ Edgar Reitz, heute vor allem bekannt durch seine „Heimat“-Reihe, hat im Jahr 1968 an einer Mädchenschule den Versuch einer Umsetzung dieser Forderung gestartet.
Reitz hatte 1953 als Kamera-, Schnitt- und Produktionsassistent angefangen. Zehn Jahre später gründete er mit Alexander Kluge in Ulm das Institut für Film, wo er bis zur Schließung des Instituts Regie und Kameratheorie lehrte. Zuvor hatte er schon mit Andreas Kluge zusammengearbeitet und war 1962 an dem Oberhausener Manifest beteiligt, das die Modernisierung des deutschen Films nach dem Vorbild der französischen Nouvelle Vague forderte. Erst 1967 realisierte Reitz seinen ersten abendfüllenden Spielfilm „Mahlzeiten“. Anfang der 70er Jahre gründete er seine eigene Produktionsfirma und setzte weitere Filme um. Ab 1981 arbeitete er an Filmen über seine Heimat im Hunsrück. Am Ende sollten es 60 Stunden Film sein, die im Kontext von „Heimat“ entstanden sind. Mit 90 Jahren blickt er nun zurück auf sein frühes Schulprojekt von 1968, das pädagogisch auch heute noch modern erscheint. Aus einem zufälligen Wiedersehen mit einem der Mädchen von damals ergibt sich 55 Jahre später ein Klassentreffen. Man redet über die damaligen Filmerfahrungen, sieht sich die damals entstandenen Filme an, die jedes Mädchen realisieren konnte. Und man diskutiert über Film in der Schule, noch heute meist nur als Pausenfüller eingesetzt, obwohl Bewegtbild das alles dominierende Medium weltweit ist. Aus dem alten Material der Fernsehdokumentation „Filmstunde“ und neuem Material vom Klassentreffen im Jahr 2023 entstand nun der berührende Film „Filmstunde_23“, der zeigt, wie gut und wichtig Filmbildung in der Schule sein könnte. Der aber auch zeigt, wie wenig auf diesem Gebiet in den letzten 55 Jahren passiert ist, obwohl uns inzwischen das zigfache an Filmbildern täglich umschwirrt.
(Christian Meyer-Pröpstl)
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