Love Exposure
Japan 2008, Laufzeit: 236 Min., FSK 16
Regie: Sion Sono
Darsteller: Takahiro Nishijima, Hikari Mitsushima, Ando Sakura, Watabe Atsuro, Watanabe Makiko, Onoue Hiroyuki, Shimizu Yutaka, Nagaoka Tasuku
Yu will nicht nur seinem fanatischen Vater, einem neurotischen Priester, sondern auch der geheimnisvollen Yoko imponieren. Beiden droht, von einer Sekte vereinnahmt zu werden. Yu tut alles, um das zu verhindern.
Erst nach knapp einer Stunde ist der Filmtitel zu sehen. Er fliegt wie eine Gewehrsalve auf die Leinwand. War alles zuvor Gesehene nur der Vorspann, fängt erst jetzt der eigentliche Film an? Tatsächlich steuert „Love Exposure“ in der ersten Stunde aus drei Richtungen, von drei Perspektiven bzw. drei Figuren auf einen Höhepunkt zu, der die Geschichte erst richtig in Gang bringt. Die Vorgeschichte ist schon dermaßen aufwühlend, dass man kaum glauben mag, dass Sion Sono das in den kommenden drei Stunden noch steigern kann. Er kann!
DIE LIEBE ALS WUNDER
Alles beginnt mit Yu (Takahiro Nishijima von der Japan-Pop Band AAA). Sein Vater ist ein fürsorglicher Priester. Als die Mutter früh stirbt, werden seine Predigten düster, und auch von seinem Sohn verlangt er fortan tägliche Buße für seine Sünden. Nur: Yu ist ein Musterschüler, und er kann keiner Fliege was zuleide tun. Um den Vergebungsdrang seines Vaters zu stillen, erfindet er Sünden. Schließlich sündigt er eines Tages tatsächlich. Er zermalmt mit größtem moralischem Widerwillen eine Ameise. Es wirkt, der Vater ist zufrieden und verzeiht. Doch er braucht nun täglich Sünden, und Yu findet langsam Gefallen am Tabubruch. Erst hilft er Omas nicht über die Straße, dann klaut er, und schließlich betätigt er sich als Upskirt-Voyeur und fotografiert die Höschen ahnungsloser Mädchen. Alles beginnt auch mit Yoko (Hikari Mitsushima), die sich schon als Kind der Übergriffe ihres Vaters erwehren muss. Eines Tages kastriert sie ihn kurzerhand, er stirbt. Ihre labile Stiefmutter kümmert sich von nun an um sie, ihren Hass auf Männer pflegt die schlagfertige Yoko weiterhin körperlich auszuleben. Und schließlich beginnt auch alles mit Koike (Sakura Ando). Das adrett in weißer Schuluniform gekleidete Mädchen operiert für eine durchgeknallte Sekte, die ihre Mitglieder kidnappt und einer Gehirnwäsche unterzieht. Als nächstes Opfer hat sie Yoko auserkoren, und Yu ist Teil ihres Plans.
Als Yu und Yoko in einer romantischen Massenschlägerei aufeinandertreffen, scheint ihr Schicksal miteinander verbunden. Der 'Vorspann' ist ein Countdown bis zu jenem Tag, jenem Moment, den Yu als Wunder bezeichnet. Für ihn ist es tatsächlich ein Wunder, das Wunder der Liebe. Für Yoko ist es ebenfalls eine faszinierende Begegnung. Allerdings mit einer faszinierenden Frau, denn Yu ist im Moment ihres Zusammentreffens gekleidet wie Sasori, jener weibliche Racheengel aus der berühmt-berüchtigten japanischen Sexploitation Filmreihe der 70er Jahre. Als ausgerechnet Yokos Ziehmutter die neue Freundin von Yus Vater wird, muss Yu ein Doppelleben führen: Als Yu versucht er vergeblich, Yokos Herz zu erobern, alleine als die geheimnisvolle Freundin von Yoko kann er ihr imponieren. Als dann auch noch die undurchsichtige Koike interveniert, und sich als vermeintliche Freundin von Yoko gegen Yu stellt, droht Yu nicht nur, seine Liebe des Lebens ganz an Koikes Sekte zu verlieren, sondern auch seinen Vater und dessen Freundin.
DIE LIEBE ALS WUNDE
„Love Exposure“ begeistert nicht zuletzt mit seiner ungewöhnlichen Liebesgeschichte. Die ist zwar reichlich verworren, doch viel Zeit zum Wundern lässt einem Sono nicht. Yus Schmerz, Yokos Schmerz – das sind die filmisch eindrucksvoll und kurzweilig gestalteten Antriebsfedern ihres Handelns. Beide werden durch ihre verkorksten Eltern in ihre Rollen getrieben. Bei Yoko ist es Rebellion gegen den Vater, Yus Perversionen sind im Grunde das Gegenteil von Rebellion, denn eigentlich will er seinem Vater nur die Sünden liefern, die der in seinem Wahn für nötig hält. Ein furios bebilderter Umweg, den Sono in einer langen Collage unpeinlich – das muss man erst mal schaffen – musikalisch mit Ravels Bolero unterlegt.
Die Ausformulierung dieser Lovestory als visuelle Explosion ist berauschend. Die sportliche, an Martial Arts-Filme erinnernde Inszenierung von Yus Voyeurismus ist nur einer der vielen Highlights. Die Figuren und ihre Themen werden aber nie dem Effekt geopfert. Wir sehen ganz besondere Menschen, und Sono feiert ihre Andersartigkeit. Mit dem ganzen religiösen Wahn, der einem im Film begegnet, bezieht Sono auch eindeutig Stellung. Natürlich referiert ein japanischer Regisseur bei einem solchen Thema auf die inflationär anwachsende Zahl von Religionsgemeinschaften im Land – knapp 200.000 gibt es dort – und im Besonderen auf die Ōmu-Sekte (hier bekannt als Aum-Sekte) und ihren Giftgasanschlag im Jahr 1995. Es gibt diverse japanische Filme, die diesen Schock verarbeiten. Aber natürlich hat man als Zuschauer auch alle tagesaktuellen Bilder des religiösen Eifers dieser Welt im Kopf. Yus Kampf für seine große Liebe und gegen diesen Wahn ist vorbildlich. Er ist ein echter Held. Bei aller Überdrehtheit des visuellen Spektakels: Am Ende ist es ein Liebesfilm, und man wischt sich nach einem ergreifenden Finale die Träne aus dem Auge.
(Christian Meyer)
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