Red Rooms – Zeugin des Bösen
Kanada 2023, Laufzeit: 118 Min., FSK 16
Regie: Pascal Plante
Darsteller: Juliette Gariepy, Laurie Fortin-Babin, Elisabeth Locas
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Aufwühlendes, intensives Psychodrama
Du bist böse!
„Red Rooms – Zeugin des Bösen“ von Pascal Plante
Ludovic Chevalier (erdrückend wortlos: Maxwell McCabe-Lokos) steht ein Prozess bevor: Ihm wird vorgeworfen, im Rahmen von Live-Events im Darknet drei Mädchen zu Tode gefoltert und zerstückelt zu haben. Chevalier sitzt im Gerichtssaal in einem Glaskasten und folgt dem Geschehen schweigend und unbeteiligt. Im Zuschauerraum: Kelly-Anne (Juliette Gariépy), die unweit des Gebäudes übernachtet, um sich an jedem Prozesstag einen Platz zu sichern. Während die Mutter eines der Opfer im Laufe des Verfahrens eine emotionale Tour de Force durchmacht, verfolgt Kelly-Anne die Eingangsplädoyers, die Anhörungen und die Beweisaufnahme mit kaltem Blick. Ein Blick, der immerzu Chevaliers Blick sucht. Draußen vor den Mikros der Presse begegnet sie der jüngeren Clementine (Laurie Babin), die Chevalier kategorisch verteidigt – Unschuldsüberzeugung statt bloß Unschuldsvermutung. Die beiden Frauen lernen sich kennen.
Ob „8mm“, „Tesis“ oder „Hostel“, ob Donna Leon-Krimi („Vendetta“) oder Michel Houellebecq-Roman („Elementarteilchen“): Das Themenfeld rund um Snuff-Filme bzw. Live-Folterungen und –Tötungen vor einem zahlungskräftigen Publikum wurde in der fiktionalen Literatur und im Genrekino bereits mannigfach aufbereitet. Dieses Thrillerdrama setzt sich eben darauf, nimmt dabei aber eine neue Perspektive ein: Erzählt wird hier von zwei Prozessbesucherinnen bzw. Groupies, die sich zu dem Verdächtigen auf unterschiedliche Art und Weise hingezogen fühlen. Während die naive und vergleichbar einfach gestrickte Clementine dem Angeklagten noch plump verklärt verfällt und die Anklage gegen ihn erhitzt als Verschwörung umdeutet, bleibt Kelly-Anne undurchdringlich – und ungleich interessanter: Eine unterkühlte, intelligente Frau, die stoisch Fitnessprogramm und Modeljobs absolviert, die dem aufwühlenden Prozess emotionslos beiwohnt und daheim genüsslich ihre Gegner beim Online-Poker ausbluten lässt. Die im Internet detektivisch zum Prozess, zum Angeklagten, zu den Angehörigen und dem Darknet recherchiert. Eine voyeuristisch, narzisstisch, sadistisch getriebene Figur, die sehnlichst den Blickkontakt zu Chevalier sucht und sich im Leid der Hinterbliebenen suhlt. Eine Protagonistin ohne Empathie. Eine Frau, die Clemtine als „böse“ bezeichnet. Eine Frau mit Vorgeschichte.
Diese Vorgeschichte behält uns der kanadische Regisseur Pascal Plante vor, und Kelly-Annes Biografie wäre durchaus ein Film für sich wert. Hier indes bleibt die Protagonistin bis zum Schluss ungreifbar, und so vermag sich erst im Nachgang des Films manche Motivation erdeuten – psychotherapeutisch geschulte Zuschauer:innen hätten sicherlich Interessantes beizusteuern.
Plante erspart uns das Schlimmste. Die Snuff-Clips, die den Geschworenen als Beweismittel vorgeführt werden, rezipieren wir in einer Szene „nur“ aus dem Off – freilich heftig genug. Dennoch: Folterszenen sind, anders als bei anderen Genrevertretern, nicht expliziter Bestandteil dieses Dramas. Überhaupt: Der Film will mehr, will anderes, ist komplexer. Wie seine Protagonistin, scheint auch der Film selbst schwer greifbar. Weil er einen Prozess um grauenvolle Morde vorschiebt, tatsächlich aber von einer Person erzählt, die weder als Täterin, Opfer, Angehörige noch Polizistin in den Fall involviert ist. Ein besonderer Film, nicht zuletzt dadurch, dass er nicht das ist, was man erwartet. Der Snuff-Plot bildet hier bloß den Rahmen. Es geht nicht um Täter oder Opfer. Es geht um Kelly Anne. Um eine Außenstehende.
„Red Rooms“ ist ein schauerlicher, intensiver, hypnotisch auf die Leinwand gebannter (Kamera: Vincent Biron) Psychothriller mit Horror-Elementen. Die spannungsvoll aufgeladene Geschichte einer psychologisch auffälligen Frau, die aus verstörenden Motiven heraus einem Prozess beiwohnt. Die Groupie ist, Voyeurin, True Crime-Fan. Und noch mehr. Eine Protagonistin, der man im Nachgang angeregt nachrätselt. Und die darüber rätseln lässt, wo man selbst steht in Zeiten von Online-Voyeurismus und allseits beliebten True Crime-Formaten.
Verstörend gut.
(Hartmut Ernst)
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