The Hateful 8
USA 2015, Laufzeit: 168 Min., FSK 16
Regie: Quentin Tarantino
Darsteller: Samuel L. Jackson, Kurt Russell, Jennifer Jason Leigh, Tim Roth, Michael Madsen, Bruce Dern, Channing Tatum
>> www.thehateful8.de
Nerdiges Underground-Kino mit politischer Note
Dialogisches Gemetzel
„The Hateful Eight“ von Quentin Tarantino
Keine Frage, der neue Film von Quentin Tarantino spaltet mehr denn je: Die einen nennen ihn im besten Fall langweilig, empfinden den Film häufig aber auch als höchst unmoralisch. Die anderen feiern den Film für seine Dialoge, seine Bilder, seinen Spannungsaufbau und nicht zuletzt für seine oft auf Gewalt gründende Komik (ja, fiktionale Gewalt kann komisch sein, siehe Dick & Doof, Tom & Jerry etc.). „The Hateful Eight“ scheint Tarantinos extremstes Werk seit seinem Debüt „Reservoir Dogs“ zu sein, verfolgt gegenüber dem Erstling allerdings eine Mission.
Krimi-Kammerspiel
Angetrieben von einem herannahenden Schneesturm, rast eine Kutsche durch die verschneite Landschaft Wyomings. Darin sitzt der Kopfgeldjäger John Ruth (Kurt Russell) mit der Banditin Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh), die er dem Henker übergeben will. Erst hält ihn der Schwarze Major Marqis Warren (Samuel L. Jackson) auf, ebenfalls Kopfgeldjäger und ehemals Soldat der Nordstaaten im wenige Jahre zurückliegenden amerikanischen Bürgerkrieg zwischen 1861 und 1865. Dann ersucht auch Chris Mannix Zuflucht in der Kutsche. Er gibt vor, der neue Sheriff des nahe gelegenen Red Rock zu sein und ist passionierter Rassist (Walton Goggins spielt ihn lustigerweise wie das Klischee eines funny black Sidekicks). Widerwillig nimmt Ruth die beiden auf und sie erreichen gerade noch Minnies Kleinwarenladen, bevor der Sturm über sie hereinbricht. Im Laden befinden sich ungewöhnlich viele Reisende, die alle kurz vor dem Sturm hier gestrandet sind. Wer hingegen fehlt: Minnie und ihre Angestellten, die normalerweise den Laden mit größter Fürsorge und Freundlichkeit schmeißen. Stattdessen ist der Mexikaner Bob vor Ort, laut eigener Aussage, um Minnie zu vertreten, während sie ihre Mutter besucht. Das kommt zunächst nur Major Warren merkwürdig vor, aber die Unstimmigkeiten verdichten sich ebenso wie die Anspannung zwischen den in der kleinen Hütte eingepferchten Revolverhelden. Die zahlreichen, recht locker sitzenden Pistolen machen die Situation kaum gemütlicher.
Anspannung und Ausbruch
In den ersten zwei Stunden kann man „The Hateful Eight“ ohne Weiteres als Dialogfilm bezeichnen, der nach relativ kurzer Zeit auch noch zum Whodunit-Kammerspiel à la Agatha Christie wird. Kein Wunder, dass die Bühnenaufführung von „The Hateful Eight“ ein derartiger Erfolg war. Denn nachdem das Drehbuch 2013 geleakt wurde, wollte Tarantino das Projekt eigentlich an den Nagel hängen und hat stattdessen eine dialogische Lesung mit den Darstellern zur Aufführung gebracht. Erst der Erfolg der öffentlichen Drehbuchlesung veranlasste den Regisseur, das Filmprojekt wieder anzuschieben. Aber trotz der Bedeutung der Dialoge in diesem extrem langsam erzählten Film ist Tarantino ein Film- und kein Theatermensch. Das Visuelle ist sein Metier, hier spielt er seine Meisterschaft, aber auch sein Nerdtum aus. Alleine die erste Einstellung sagt alles über Tarantinos Haltung zu diesem Medium: Zu den grandiosen Klängen von Ennio Morricones Original-Score legen sich die im Retrodesign gehaltenen Credits über eine Kameraeinstellung, die in aller gebotenen Langsamkeit das Leiden eines in Holz geschnitzten Jesus am Wegkreuz abtastet, während sich langsam besagte Kutsche nähert. So viel Zeit nehmen sich sonst nur noch der Philippine Lav Diaz, der Türke Nuri Bilge Ceylan oder der Thailänder Apichatpong Weerasethakul – aber sicher nicht das Mainstreamkino von Hollywood. Zum Einsatz kam das nur wenige Male in den 60er Jahren eingesetzte analoge Ultra Panavision 70mm-Breitbildformat, das hier aber nur selten für solch weite Landschaften genutzt wird, sondern um das komplexe Raumgefüge in der Hütte mit all seinen vielen Details auszuleuchten.
Später kommt es dann natürlich wieder, wie es kommen muss: Das Blut spritzt und Körperteile fliegen durch den Raum, wenn sich die latente Gewalt in einer Eruption leinwandfüllend in absurd übersteuerter, schräg sexualisierter und absolut ambivalenter Gewaltdarstellung Bahn bricht. Im Finale entzieht Tarantino dann auch noch den letzten beiden Figuren unsere Sympathie. Reiner Nihilismus und Zynismus? Oder realistische Einschätzung einer Gesellschaft, die Tarantino auf einer Demonstration gegen Polizeigewalt kritisierte (woraufhin die Polizei zum Boykott gegen den Film aufrief). Was man nach dem blutigen Showdown fast wieder vergessen hat: Da gab es eine Rückblende, und dort sah man vielleicht das, was der Regisseur als liebenswert und erhaltenswert erachtet. Zumindest hat er selten eine Szenerie freundlicher gestaltet als in dieser fast kindlich naiven Szene, die von Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, Freiheit und einem friedlichen Miteinander – der Ethnien und der Geschlechter – erzählt. Leider scheint keine der Hauptfiguren in „The Hateful Eight“ Tarantinos Einschätzung zu teilen. Der nach „Inglourious Basterds“ und „Django Unchained“ dritte explizit politische Film Tarantinos ist keine revisionistische Rachefantasie wie die beiden Vorgänger, sondern enthält tatsächlich so etwas wie einen Hoffnungsschimmer. Am Ende wird für den Wunsch nach Gleichberechtigung gar Abraham Lincoln zitiert.
Oscars 2016: Beste Original-Musik, Ennio Morricone
Golden Globe 2016, Beste Filmmusik
(Christian Meyer)
Zwischen Helden- und Glückssuche
Die Kinotrends des Jahres – Vorspann 01/25
Schund und Vergnügen
„Guilty Christmas Pleasures: Weihnachtsfilme“ im Filmstudio Glückauf Essen – Foyer 12/24
„Das Ruhrgebietspublikum ist ehrlich und dankbar“
Oliver Flothkötter über „Glückauf – Film ab!“ und Kino im Ruhrgebiet – Interview 12/24
Besuchen Sie Europa
Die Studie Made in Europe und ihre Folgen – Vorspann 12/24
Hagener Bühne für den Filmnachwuchs
„Eat My Shorts“ in der Stadthalle Hagen – Foyer 11/24
Ruhrgebietsfilmgeschichte erleben
„Glückauf – Film ab!“ im Essener Ruhr Museum
Zermürbte Gesellschaft
choices preview zu „Critical Zone“ im Odeon – Foyer 11/24
Die ganze Palette Kino
9. European Arthouse Cinema Day – Festival 11/24
Filmfestivalmonat November
Mit der Duisburger Filmwoche, Doxs! und dem Blicke – Filmfestival des Ruhrgebiets – Vorspann 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Liebe und Macht
choices preview zu „Power of Love“ in der Filmpalette – Foyer 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
Reise in die Seele des Kinos
Die Ausstellung „Glückauf – Film ab“ in Essen – Vorspann 10/24
„Die Geschichte ist jetzt unfassbar aktuell“
Regisseur Andreas Dresen über „In Liebe, Eure Hilde“ – Gespräch zum Film 10/24
Programmkollaps
Vergraulen immer komplexere Kinoprogramme das Publikum? – Vorspann 09/24
Zurück zum Film
Open-Air-Kinos von Duisburg bis Dortmund – Vorspann 08/24
Der Sieg des Glaubens
„Führer und Verführer“ im Kölner Odeon mit Regisseur Joachim Lang – Foyer 07/24
„Poor Things“, reiches Cannes
Eine Bilanz der ersten sechs Kinomonate – Vorspann 07/24
Lichtspiele mit Charme
Eröffnung der Ausstellung „Glückauf – Film ab!“ im Ruhr-Museum – Foyer 07/24
„Es geht um Geld, Gerechtigkeit und Gemeinschaft“
Regisseurin Natja Brunckhorst über „Zwei zu eins“ – Gespräch zum Film 07/24
Der Tod, der uns verbindet
NRW-Premiere von Eva Trobischs „Ivo“ – Foyer 06/24
Ewige Stadt, ewiges Kino
In Rom werden aus alten verlassenen Kinos wieder Kinos – Vorspann 06/24
Ein letzter Blick von unten
„Vom Ende eines Zeitalters“ mit Filmgespräch im Casablanca Bochum
„Wir erlebten ein Laboratorium für ein anderes Miteinander“
Carmen Eckhardt über „Lützerath – Gemeinsam für ein gutes Leben“ – Portrait 05/24
Grusel und Begeisterung
„Max und die wilde 7: Die Geister Oma“ mit Fragerunde in der Schauburg Dortmund