Western
Deutschland, Bulgarien, Österreich 2017, Laufzeit: 120 Min., FSK 12
Regie: Valeska Grisebach
Darsteller: Meinhard Neumann, Reinhardt Wetrek, Syuleyman Alilov Letifov
>> www.western-der-film.de
Hyperrealistischer Neo-Western
Archetypen der Männlichkeit
„Western“ von Valeska Grisebach
Es ist unter den vielen eindringlichen Momenten eine der berührendsten Szenen des ganzen Films: Während eines Dorffests tanzt der Schlosser und freiwillige Feuerwehrmann Markus vollkommen selbstvergessen zu „Feel“ von Robbie Williams. Die Szene balanciert ganz unprätentiös zwischen Realismus und Überhöhung und trägt ein großes Versprechen in sich. Die Szene stammt nicht aus „Western“, sondern aus „Sehnsucht“, dem zweiten Film der Regisseurin Valeska Grisebach aus dem Jahr 2006. Das Versprechen lautete damals: Hier gibt es eine Regisseurin, die einen unglaublich intensiven, unverstellten Zugriff auf die Wirklichkeit hat und die Gabe, dies ohne Reibungsverlust in ein Kunstwerk zu überführen. Das kleine, in einem Dorf in Brandenburg angesiedelte Melodram ließ hoffen, dass darauf ein großes Meisterwerk aufbaut. Aber über zehn Jahre lang folgte da gar nichts. Grisebachs Produktionsrhythmus ist noch langsamer als der ihrer Kollegin Maren Ade, die ebenfalls 2006 ihren wunderbares Debüt „Wald vor lauter Bäumen“ in die Kinos brachte, 2009 mit „Alle anderen“ nachlegte und dann erst 2016 mit „Toni Erdmann“ erfolgreich zurück in die Kinos kam. Warum der Vergleich? Ade hat Valeska Grisebachs neuen Film „Western“, der im Frühling in Cannes Premiere feierte und nun in die Kinos kommt, mit ihrer Firma Komplizen Film produziert. Grisebach wiederum stand Ade als dramaturgische Beraterin für „Toni Erdmann“ zur Seite. In einer Szene scheinen sich die beiden Filme dann auch fast zu berühren: Wenn ‚Toni Erdmann‘ nach dem Besuch einer Ölfirma mit seiner Tochter überraschend auf einer rumänischen Familienfeier landet, ist da diese zarte Annäherung an eine andere Sprache und eine andere Kultur, die mit Mut und Neugier gelingen kann. Auch darum geht es in „Western“.
Trocken ist es, die Hitze flirrt über den Hügeln, über die ein Trupp aus deutschen Bauarbeitern gelangweilt blickt. Die Kolonne soll hier ein Wasserkraftwerk bauen. Doch schnell stellt sich heraus, dass das Vorhaben unter keinem guten Stern steht. Es gibt kaum Wasser, und der bestellte Kies kommt auch nicht an. Also gehen die Männer im Fluss baden, chillen auf der Terrasse, wo eine Deutschlandfahne gehisst wurde, und werfen sich alberne Sprüche zu. Der Chef Vincent (Reinhardt Wetrek) steht im Mittelpunkt dieses Rudels, während sich Meinhard (Meinhard Neumann) zunehmend von der Gruppe abwendet und stattdessen Kontakt zu den Bewohnern des nahe liegenden Dorfs aufnimmt, ohne ein Wort ihrer Sprache zu verstehen. Was ihn antreibt, weiß er wohl selber nicht genau. Die Einsamkeit, die Neugierde, das Abenteuer? Je mehr Zeit er im Dorf verbringt, desto skeptischer betrachten ihn seine Kollegen, allen voran Vincent mit seiner übergriffigen Annäherung an die Einheimischen. Er tritt auch zunehmend aggressiv gegenüber Meinhard auf. Aber auch unter den Einheimischen brechen Konflikte auf.
War „Sehnsucht“ als Melodram angelegt, so gibt auch dieses Mal bereits der Titel klare Hinweise: Mittels klassischer Topoi – der Loner in der Fremde, das Duell der Kontrahenten, die Sehnsucht nach dem Abenteuer – lässt Grisebach ihre Liebe zum Western in den Film einfließen. Klassisch männliche Verhaltensmuster werden in „Western“ wie unter der Lupe betrachtet. Eingebettet ist die Western-Dramaturgie in archetypische Bilder von Männern in Landschaften, Männer mit Pferden, Männer mit Männern… und mitunter auch Männer mit Frauen. Zum lange erwarteten Meisterwerk wird Grisebachs neuer Film vor allem durch seine ungewöhnliche Inszenierung. Sechs Jahre hat das Casting gedauert, bis die deutschen Laiendarsteller auf Dorffesten, Jahrmärkten und dem Bau gefunden waren, während die bulgarischen Darsteller alles Bewohner der näheren Umgebung sind. Sprache, Duktus, Mimik und Gesten – das alles ist in diesem dokumentarisch wirkenden Film so plastisch, so greifbar, so real, dass es scheint, als spränge einem das Leben von der Leinwand entgegen. Dahinter steckt natürlich eine Übersetzungsarbeit der Filmemacher und Darsteller, aber die ist für uns nicht sichtbar. Wir blicken direkt ins Leben.
(Christian Meyer-Pröpstl)
Zwischen Helden- und Glückssuche
Die Kinotrends des Jahres – Vorspann 01/25
Schund und Vergnügen
„Guilty Christmas Pleasures: Weihnachtsfilme“ im Filmstudio Glückauf Essen – Foyer 12/24
„Das Ruhrgebietspublikum ist ehrlich und dankbar“
Oliver Flothkötter über „Glückauf – Film ab!“ und Kino im Ruhrgebiet – Interview 12/24
Besuchen Sie Europa
Die Studie Made in Europe und ihre Folgen – Vorspann 12/24
Hagener Bühne für den Filmnachwuchs
„Eat My Shorts“ in der Stadthalle Hagen – Foyer 11/24
Ruhrgebietsfilmgeschichte erleben
„Glückauf – Film ab!“ im Essener Ruhr Museum
Zermürbte Gesellschaft
choices preview zu „Critical Zone“ im Odeon – Foyer 11/24
Die ganze Palette Kino
9. European Arthouse Cinema Day – Festival 11/24
Filmfestivalmonat November
Mit der Duisburger Filmwoche, Doxs! und dem Blicke – Filmfestival des Ruhrgebiets – Vorspann 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Liebe und Macht
choices preview zu „Power of Love“ in der Filmpalette – Foyer 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
„Die Geschichte ist jetzt unfassbar aktuell“
Regisseur Andreas Dresen über „In Liebe, Eure Hilde“ – Gespräch zum Film 10/24
Reise in die Seele des Kinos
Die Ausstellung „Glückauf – Film ab“ in Essen – Vorspann 10/24
Programmkollaps
Vergraulen immer komplexere Kinoprogramme das Publikum? – Vorspann 09/24
Zurück zum Film
Open-Air-Kinos von Duisburg bis Dortmund – Vorspann 08/24
Der Sieg des Glaubens
„Führer und Verführer“ im Kölner Odeon mit Regisseur Joachim Lang – Foyer 07/24
Lichtspiele mit Charme
Eröffnung der Ausstellung „Glückauf – Film ab!“ im Ruhr-Museum – Foyer 07/24
„Poor Things“, reiches Cannes
Eine Bilanz der ersten sechs Kinomonate – Vorspann 07/24
„Es geht um Geld, Gerechtigkeit und Gemeinschaft“
Regisseurin Natja Brunckhorst über „Zwei zu eins“ – Gespräch zum Film 07/24
Der Tod, der uns verbindet
NRW-Premiere von Eva Trobischs „Ivo“ – Foyer 06/24
Ewige Stadt, ewiges Kino
In Rom werden aus alten verlassenen Kinos wieder Kinos – Vorspann 06/24
Ein letzter Blick von unten
„Vom Ende eines Zeitalters“ mit Filmgespräch im Casablanca Bochum
„Wir erlebten ein Laboratorium für ein anderes Miteinander“
Carmen Eckhardt über „Lützerath – Gemeinsam für ein gutes Leben“ – Portrait 05/24
Grusel und Begeisterung
„Max und die wilde 7: Die Geister Oma“ mit Fragerunde in der Schauburg Dortmund