Wolke 9
Deutschland 2008, Laufzeit: 99 Min., FSK 12
Regie: Andreas Dresen
Darsteller: Ursula Werner, Horst Westphal, Horst Rehberg, Steffi Kühnert
Inge, Ende 60, ist seit dreißig Jahren mit Werner zusammen. Als sie den fast 80jährigen Karl kennen lernt, verlieben sich beide Hals über Kopf ineinander. Andreas Dresen mausert sich zum Meister des sozialrealistischen Dramas. Was in England Mike Leigh ("Happy-Go-Lucky") oder Ken Loach ("Just a Kiss") und was in Belgien die Dardenne-Brüder ("Das Kind"), das ist für den deutschen Film spätestens seit "Wolke 9" Andreas Dresen. Die Fähigkeit, seine Themen einfühlsam und intelligent zugleich anzugehen und dabei immer die schützende Hand über seine Protagonisten zu legen, zeigt er in seinem neuen Film in Vollendung. Und dass bei einem eher heiklen Thema: "Wolke 9" zeigt alte Menschen, die sich lieben und Sex haben.
Der Alltag der Alten
Klar, dass es das gibt. Nur in der öffentlichen Wahrnehmung und somit auch im Kino ist Sex zwischen Menschen jenseits der 60 der Einzelfall. Es gerät schnell zur Plattitüde, wenn man diese Ausgrenzung beklagt. Dennoch klagt man immer noch zu Recht darüber, und auf das Kino trifft der Vorwurf noch deutlicher zu. Die Rollen für Alte sind begrenzt: kauzig, nervig, senil, betont jugendlich
nur ihr normaler Alltag ist das, was in Spielfilmen oft fehlt. Auch und besonders in jüngeren Dokumentarfilmen: Dort sehen wir einen Rentnerchor, der Punk-Songs anstimmt ("Young@Heart") oder ältere Damen, die sich für einen Kalender ausziehen ("Kalender Girls"). Aber wie könnte der Alltag aussehen? Und vor allem: Wie sollte er aussehen können? Andreas Dresen stellt in seinem neuen Film beide Fragen. Deswegen ist das Altsein auch gar nicht das Hauptthema des Films. Seine Themen sind Liebe, Eifersucht, Verantwortung und die Frage nach dem Recht auf Glück. Alles Themen, die man auch mit allen anderen Liebesfilmen dieser Welt in Verbindung bringen würde. In "Wolke 9" sind die Beteiligten allerdings zwischen 70 und 80 Jahre alt. Inge ist knapp 70. Seit 30 Jahren ist sie mit Werner verheiratet. Werner ist etwas älter als sie. Sein Hobby ist die Eisenbahn, Inge schneidert am Beistelltisch im Schlafzimmer. Um sich etwas dazuzuverdienen, nimmt sie Änderungen vor. Als sie einem Kunden die geänderte Hose bringt, ist die Anziehung so groß, dass sie beide spontan im Wohnzimmer übereinander herfallen. Der Film macht mit dieser Eröffnungsszene gleich klar, was er will - und was er nicht will: Die erste Sexszene kommt nach wenigen Minuten und findet im taghellen Wohnzimmer statt. "Keine Umwege! Keine verschämten Szenen! ... Stattdessen volles Tageslicht, das war von Anfang an klar ... Und nicht solche Bildverlegenheiten wie ",Hand krallt sich in Haut", all diese kinematografischen Allgemeinheiten. Nein, ich wollte, dass der Zuschauer zu jeder Zeit weiß, was machen die gerade." So formuliert Dresen sein Programm. In der Tat zeichnet sich sein Film vor allem durch eine erfrischend unverklemmte Direktheit aus, die trotz aller Einblicke nicht voyeuristisch wird. Vielmehr geht es darum, durch eine genaue Beobachtung den Figuren und ihrem Seelenleben nahe zu kommen.
Das Recht auf Glück
Inge versucht zunächst, das Erlebte auszublenden. Aber ihr Kunde, der fast 80jährige Karl, kommt mit einem neuen Änderungswunsch für seine Garderobe. Lange kann sich Inge ihren Gefühlen nicht entgegenstellen. Karl ist so anders als ihr Mann. Während Werner gerne Eisenbahn fährt und durch das Fenster die Landschaft betrachtet, taucht Karl nicht nur bei seinen Radtouren in die Landschaft ein, sondern geht zusammen mit Inge an einsame Badeseen. Inges Liebe zu Werner ist dem Alltag gewichen, während die Erlebnisse mit Karl eine einzige Verjüngungskur sind. Von schlechtem Gewissen und Entscheidungsnot geplagt erzählt sie Werner schließlich von ihrer Affäre. Der ist entsetzt, aber kaum fähig zu einer adäquaten Auseinandersetzung. Vorwürfe und Beschimpfungen treiben Inge erst recht in die Arme von Karl. Nun sitzt Werner alleine in der gemeinsamen Wohnung voller Erinnerungen. "Wolke 9" wirkt fast wie ein Dokumentarfilm mit der spontan geführten Kamera, die als unauffälliger Beobachter den Gesprächen beiwohnt, langsam die Umgebung abtastet - Landschaften, Wohnungen, Gesichter - und sich dabei auch mal in aller Ruhe in einem Anblick verliert. Die Hauptdarsteller Ursula Werner, Horst Rehberg und Horst Westphal - allesamt gestandene Theaterschauspieler - unterstreichen den dokumentarischen Anschein, den die Kamera suggeriert, mit ihrem unprätentiösen Spiel. Die wenigen Dialoge sind weitgehend aus der Improvisation entstanden und wirken in ihrem umgangssprachlichen Gestus so realistisch, wie es geschriebene Dialoge nur selten sind. Dass Dresen mit seinem ruhigen und undramatischen Ansatz das Thema schließlich doch bis zum Drama ausweitet, hat einen guten Grund. Nur so kann er - immer unter der Prämisse des verantwortungsbewussten Handelns - das absolut uneingeschränkte Recht auf Glück und Entfaltung einfordern. Auch im Alter.
Die ganze Palette Kino
9. European Arthouse Cinema Day – Festival 11/24
Filmfestivalmonat November
Mit der Duisburger Filmwoche, Doxs! und dem Blicke – Filmfestival des Ruhrgebiets – Vorspann 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
„Die Geschichte ist jetzt unfassbar aktuell“
Regisseur Andreas Dresen über „In Liebe, Eure Hilde“ – Gespräch zum Film 10/24
Reise in die Seele des Kinos
Die Ausstellung „Glückauf – Film ab“ in Essen – Vorspann 10/24
Programmkollaps
Vergraulen immer komplexere Kinoprogramme das Publikum? – Vorspann 09/24
Zurück zum Film
Open-Air-Kinos von Duisburg bis Dortmund – Vorspann 08/24
Der Sieg des Glaubens
„Führer und Verführer“ im Kölner Odeon mit Regisseur Joachim Lang – Foyer 07/24
Lichtspiele mit Charme
Eröffnung der Ausstellung „Glückauf – Film ab!“ im Ruhr-Museum – Foyer 07/24
„Poor Things“, reiches Cannes
Eine Bilanz der ersten sechs Kinomonate – Vorspann 07/24
„Es geht um Geld, Gerechtigkeit und Gemeinschaft“
Regisseurin Natja Brunckhorst über „Zwei zu eins“ – Gespräch zum Film 07/24
Der Tod, der uns verbindet
NRW-Premiere von Eva Trobischs „Ivo“ – Foyer 06/24
Ewige Stadt, ewiges Kino
In Rom werden aus alten verlassenen Kinos wieder Kinos – Vorspann 06/24
Ein letzter Blick von unten
„Vom Ende eines Zeitalters“ mit Filmgespräch im Casablanca Bochum
„Wir erlebten ein Laboratorium für ein anderes Miteinander“
Carmen Eckhardt über „Lützerath – Gemeinsam für ein gutes Leben“ – Portrait 05/24
Grusel und Begeisterung
„Max und die wilde 7: Die Geister Oma“ mit Fragerunde in der Schauburg Dortmund
Wenn Kino Schule macht
Die Reihe Filmgeschichte(n) spürt Schulgeschichten auf – Festival 05/24
Der Kurzfilm im Rampenlicht
Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen 2024 – Vorspann 05/24
„Ich wollte die Geschichte dieser Mädchen unbedingt erzählen“
Karin de Miguel Wessendorf über „Kicken wie ein Mädchen“ – Portrait 04/24
Mehr als „Malen-nach-Zahlen-Feminismus“
„Ellbogen“ im Kölner Filmpalast – Foyer 04/24
Sichtbarkeit vor und hinter der Leinwand
Das IFFF fordert Gleichberechtigung in der Filmbranche – Festival 04/24
„Ich mag realistische Komödien lieber“
Josef Hader über „Andrea lässt sich scheiden“ – Roter Teppich 04/24
„Viel Spaß beim Film“
Vom Ende der Platzanweiser:innen – Vorspann 04/24
„Kafka empfand für Dora eine große Bewunderung“
Henriette Confurius über „Die Herrlichkeit des Lebens“ – Roter Teppich 03/24