Leidenschaft, Eifersucht, Raserei und Mord sind die Schwerpunkte, die Zola in seinem Kriminalroman über Lüge und Triebhaftigkeit ausbreitet. Der Roman spielt im Frankreich der Industrialisierung und beleuchtet die Schattenseiten des technologischen Fortschritts. Was der französische Autor in bildgewaltigen Worten erschuf, wird durch Handarbeit des „metropol ensembles Bremen“ und der „Bühne Cipolla“ erfolgreich inszeniert und wirft teilweise erschreckend aktuelle Fragen auf. Émile Zola scheint seiner Zeit voraus gewesen zu sein und erkannte früh, dass Geschwindigkeit und Leistungsdruck unter Umständen nur auf Kosten der Menschlichkeit zu erreichen sind.
Puppenspieler und Regisseur Sebastian Kautz und der Musiker und Komponist Gero John sowie das Figurenensemble erwarteten das Publikum um 20 Uhr in einer zeitgenössisch aufgemachten Puppenwerkstatt. Das Bühnenbild ist klein, flexibel und überschaubar. Die meisten Gegenstände sind mechanischer Natur und aus Eisen. In intimer Atmosphäre liegen, stehen oder sitzen die noch unbelebten Puppen, als John sein Cello in finsteren Tönen zu spielen beginnt und Kautz wie ein Schöpfer, mit einem leicht beängstigenden Lächeln im Gesicht durch die Reihen schreitet, um seine „Schöpfungen“, die zweifelsohne durch feinste Handarbeit entstanden sind, wie ein wahnsinniger Alchemist zu betrachten.
Der Konstrukteur ergreift schließlich die Puppe des Eisenbahners Roubaud, der erst noch hinter Zeitungen versteckt am rechten Bühnenrand auf einer Fläche der Werkbank kauert. Roubaud ist vom Leben gezeichnet. Dunkle Augen, Bart, Kanten, Falten und Kerben. Heute würde man ihn im Ruhrgebietsjargon wohl als „Malocher“ betiteln. Wie im Roman erfährt er nun, dass seine Frau Séverine, eine in das typische Frauenbild jener Zeit gezwängte, harmoniebedürftige Figur, eine Affäre mit dem Präsidenten der Eisenbahngesellschaft hatte.
In seinem Zorn zwingt er sie zur Mittäterschaft am Mord des Präsidenten, der im Schnellzug zu seiner perfiden Ausführung kommen soll. Beobachtet wird die Tat vom Lokführer Jacques Lantier, der ebenfalls eine Affäre mit Séverine eingeht, jedoch eigentlich eine schauderhaft innige „Liebesbeziehung“ zu seiner Lokomotive „La Liason“ pflegt.
„Zu Eisen gewordene Logik und Sicherheit“, nennt er Liason, bei der sich „Kraft mit Präszision“ paare. Lantier huldigt der immer höheren Geschwindigkeit seiner Lok mit der es in „Richtung Zukunft“ ginge, bevor er den angepriesenen Kasten an sich hebt und einen innigen Tanz aufführt. Das lässt dem Zuschauer, spätestens jetzt, das Blut in den Adern gefrieren. Dies ist Sebastian Kautz zu verdanken, der durch seine ungeheure Wandlungsfähigkeit, kombiniert mit Johns passendem Soundtrack, jedem einzelnen Charakter eine eigene Seele verleiht.
Die Vermenschlichung der Maschine und der technische Fortschritt als inszenierter Schöpfungsakt sind gerade im Zeitalter der Digitalisierung Komponenten modernen Produktmarketings. Höher, weiter, schneller lautet das Motto unserer immer schnelleren Wettbewerbs- und Leistungsgesellschaft. Doch werden wir dadurch zu Bestien? Hat Zolas Warnung nichts genützt und sorgt technologischer Fortschritt mehr und mehr zur Abkapselung des Individuums aus der Gesellschaft? Wenn man z. B. an die Wunder der Medizintechnik denkt, lautet die Antwort nein. Ja, wenn man sich die Opfer von Kampfdrohnen vor Augen führt.
Auch Zola würde wohl zu einem Ja tendieren, denn nachdem der frustrierte, immer mehr dem Alkohol verfallende „Proletarier“ Roubaud versucht, Séverine zu vergewaltigen, verlangt diese von Lantier Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Roubaud habe für den Mord am Präsidenten selbst den Tod verdient. Nicht gut, nicht schlecht habe sie sich bei ihrer Komplizenschaft gefühlt, doch sie fühle dadurch wieder das echte Leben. Ihr geht es hier um eine konventionelle Befreiung und ein gemeinsames Leben mit Lantier, der das Mordkomplott zwar skeptisch betrachtet, sich jedoch dann, ganz wie seine Lok, nicht mehr für Vergangenes interessieren möchte. Unvergessen bleibt die Szene, in der die Beiden den Mord besprechen und einander ihre Liebe gestehen, während Roubaud über ihnen im schummrigen Licht bereits am Galgen baumelt.
Wenn alles schneller wird, wird das Schritthalten anstrengend. Neben dem Frust wächst in Zolas Geschichte auch der Egoismus, während sich die Schuldgefühle vermindern. Jeder möchte ein Stück vom Glück und vom Erfolg abbekommen. Eindrücke, die auch heute alltäglich sind.
„Nichts ist empfindlicher als das Herz und die Seele der Lok“, so Lantier im Wutrausch über einen Schneesturm, der seine Liason „verwundete“, was zu seiner Empörung alles verlangsamt. Das wirft auch die Frage nach unserer Seele auf – sie sollte nicht zu Eisen werden und flexibel bleiben, so verdeutlicht es das abschließende Bühnenbild, in dem eine Blume als Schattenbild aus Liason erwächst. Nach Ende des Stücks rasen nun auch wir wieder „mit mathematischer Genauigkeit der Zukunft entgegen“. Ob dabei die Hand eines Puppenspielers in unserem Hinterkopf steckt, sollte jeder für sich erfragen.
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