Slam-Poetry ist Off-Literatur. Das heißt, der hochkulturelle Anspruch, feinsinnige Texte von überzeitlicher Wertigkeit zu schreiben, besteht erst gar nicht. Unmittelbar soll das Texterlebnis sein. Das Gute daran: Wie kaum ein anderes Format schafften es Poetry Slams, für Literatur im Allgemeinen und besonders auch für Lyrik zu begeistern – eine in heutigen Zeiten beinahe schon aussterbende Ausdrucksform. Schade ist, dass manche Poetry-Slammer Unmittelbarkeit mit leichter Unterhaltung verwechseln – und statt einfacher, aber guter Poesie lieber bessere Comedy auf die Bühne bringen.
Beim WortReiz Slam in Herne bewies der Offenbacher Samuel Kramer, dass ein Jungpoet auch mit Lyrik überzeugen kann – wenn Sie nur bildstark und nah am Leben ist. In „Spieluhr“, dem kurzen Lyrik-Dreiteiler, der ihn ins Finale brachte, geht es um Straßenmusiker, Discoszenerie in der sich Menschen „wie Wellen“ im Raum ausbreiten oder, ganz generell, um kleine Schönheiten, die es im Trubel dieser Zeiten zu entdecken gibt.
Doch die anderen SlammerInnen standen dem Sieger des Abends in nichts nach: ZwergRiese aus Essen brachte mit „Sprengsätze“ eine kleine Hommage an die Ruhrpott-HipHop-Legenden RAG auf die Bühne. Gleichzeitig war sein Text eine Liebeserklärung an den Poetry-Slam: „Es ist lyrisches Gold, dass wir tragen in fremde Städte.“ Die Art zu Reimen und die rhythmischen Verse erinnerten ebenfalls stark an Rap und zeigten: Poetry Slam geht auch musikalisch – und das ganz ohne Instrumente. Nicht umsonst wählte ihn das Publikum unter die drei Finalisten.
Und natürlich, einige Slammer probierten es auch mit Humor: Jan Schmidt trug eine wilde Collage aus Anti-Witzen vor („Hinterhältig kann man nicht ohne Held schreiben!“) und die ortsanssässige Jessica schilderte die Tragik des Herner-Singledaseins. Der Dortmunder Tobi Katze drehte das Konzept Comedy um, mit einem Text über seine Depression. Sein Resumee, trocken vorgetragen und ohne Lächeln auf den Lippen: „Man findet alles witzig, wenn man keine Wahl hat.“ Soll der Zuhörer nun lachen oder betroffen sein? Man weiß es nicht und wird nachdenklich.
Die Leipzigerin Leonie Warnke, aus Gelsenkirchen stammend, rechnete mit der Ruhrpott'schen Fußball-Manie ab und beförderte sich mit viel Wortwitz und starken Bildern der Ruhrpott-Tristesse ihrer Jugendjahre ebenfalls ins Finale.
Beim abschließenden Wort-Wettkampf zwischen Samuel Kramer, ZwergRiese und Leonie Warnke überzeugte der Offenbacher Lyrik-Freund mit einem „Gesetztestext“: Eigene Gesetzesentwürfe zum Verbot politischer Lyrik und Original-BGB-Zitate wob er zu einem Text zussammen, der regelmäßig von Lyrik-Passagen unterbrochen wurde, die wie Projektile den scheinbar so durchstrukturierten Text zerschossen.
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