Zur Person:
Antje
Ruhmann ist Referentin für Kinderrechte beim Kinderhilfswerk terre
des hommes. Sie beschäftigt sich mit den Themen Kinderhandel und
Kinderarbeit weltweit.
trailer: Frau Ruhmann, was genau versteht man unter Kinderarbeit?
Antje Ruhmann: Das kommt darauf an, wen sie fragen. Die Zivilgesellschaft, also auch wir, unterscheidet zwischen leichter und ausbeuterischer Kinderarbeit. Leichte Kinderarbeit ist eine Tätigkeit, die die Kinder ein paar Stunden am Tag machen, die nicht die Gesundheit schädigt und die parallel zum Schulbesuch stattfindet. Zum Beispiel der Verkauf von Sachen auf der Straße, Tätigkeiten im Haushalt oder Autowäsche gegen Entgelt. Das sind Tätigkeiten, die wir aus unserer Perspektive als tolerierbar einstufen würden, weil sie das Wohlergehen und die Entwicklungschancen der Kinder nicht beeinträchtigen.
Dann gibt es die ausbeuterische Kinderarbeit, das ist Arbeit, die mehrere Stunden am Tag geleistet wird, mehrere Tage die Woche und die einen Schulbesuch unmöglich macht. Das ist Arbeit, bei der die Kinder schwere körperliche oder seelische Schäden davontragen, etwa wenn sie stundenlang schwere Lasten schleppen, mit giftigen Pestiziden hantieren oder endlos lang in gebückter Haltung an Nähmaschinen Textilien nähen. Wenn Sie aber die Internationale Arbeitsorganisation fragen, dann ist im Prinzip sämtliche Arbeit von Kindern zu verurteilen, die unter einem Alter von 13 Jahren passiert. Fragen Sie hingegen die Kinder in Lateinamerika oder Afrika, dann sagen diese häufig, dass sie ein Recht auf Arbeit hätten. Und dass die Arbeit, die sie parallel zum Schulbesuch ausüben, dann in vielen Formen möglich sein und sogar gefördert werden sollte, weil sie ihre Persönlichkeit stärkt und ein Einkommen schafft, das in vielen Fällen den Schulbesuch erst ermöglich.
Aus welchen Gründen findet Kinderarbeit statt?
Zur Person:
Antje
Ruhmann ist Referentin für Kinderrechte beim Kinderhilfswerk terre
des hommes. Sie beschäftigt sich mit den Themen Kinderhandel und
Kinderarbeit weltweit.
Der Hauptgrund für Kinderarbeit ist Armut. Meistens ist es so, dass die Familie wirklich nicht genug Geld hat, um zu überleben und die Kinder arbeiten, um diese Lücke zu schließen. Sie verwenden ihr Einkommen zum Beispiel dafür, Lebensmittel für die Familie zu kaufen oder ihre kleineren Geschwister zu versorgen. Das zieht sich durch alle Kulturen und Länder. Man kann aber auch sagen, dass es in den einzelnen Ländern noch spezifische Gründe gibt, die zu Kinderarbeit führen. Das können kulturelle Gründe sein wie zum Beispiel das Kastenwesen in Indien, wo es in den niedrigeren Kasten fast selbstverständlich ist, dass die Kinder arbeiten. Es kann sein, dass indigene Völker Kinder aus Gründen der Erziehung oder weil es zum Erwachsenwerden dazu gehört, völlig selbstverständlich mit zur Arbeit nehmen. Das sind Formen von Kinderarbeit, die seit vielen Generationen gesellschaftlich verankert sind. Es kann aber auch sein, dass äußere Umstände dazu führen, dass Kinder in die Arbeit gezwungen werden. Beispielsweise weil sich eine neue Industrie vor Ort aufbaut, für die billige Arbeitskräfte gesucht werden, und die Anreize schafft, um Kinder in Arbeitsverhältnisse zu bekommen.
Wie viele Kinderarbeiter gibt es weltweit?
Laut Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation sind 168 Millionen Mädchen und Jungen zwischen fünf und siebzehn Jahren in Kinderarbeit tätig, davon 85 Millionen in gefährlicher Arbeit. Das ist wirklich sehr viel. Die Dunkelziffer ist aber noch viel höher, denn diese beiden Zahlen decken zum Beispiel nicht die Tätigkeit von Mädchen in privaten Haushalten ab. Und in vielen Kulturen ist es so, dass die Kinder in ganz jungem Alter in andere Familien entliehen werden und dort eigenverantwortlich im Haushalt arbeiten. Sie fehlen in der Schätzung, weil niemand diese Kinder erfasst und zählt.
Was muss geschehen, damit Kinderarbeit weniger wird oder ganz verschwindet? Und ist das überhaupt möglich?
Ja, für möglich halte ich das in jedem Fall. In Mitteleuropa gab es auch lange Jahre Kinderarbeit. Generell ist es wichtig, sich die Lebenssituation des Kindes in seinem Umfeld anzuschauen. Wir müssen die Einkommenssituation der Eltern verbessern, damit der wirtschaftliche Druck abnimmt und die Eltern ihre Kinder in die Schule schicken können. Wenn wir feststellen, dass das Kind eine leichte Form von Arbeit macht, die für einen gewissen Zeitraum tolerabel ist, dann unterstützen wir das Kind dabei, einen fairen Lohn zu erhalten. Wir fördern zum Beispiel Kindergewerkschaften, die sich dafür einsetzen, dass die Kinder einen guten Lohn erhalten und nicht auch noch übers Ohr gehauen werden. Oder dass sie Schutzkleidung tragen, wenn sie arbeiten, und parallel noch zur Schule gehen können, damit sie langfristig eine bessere Perspektive haben. Im Falle von ausbeuterischer Kinderarbeit ist die Situation natürlich komplizierter. Diese Kinder müssen wir auf jeden Fall aus den Arbeitsverhältnissen befreien, denn das ist eine Situation, die nicht akzeptabel ist und die Kinder schädigt. Dann versuchen wir, sie in leichtere Tätigkeiten zu vermitteln, damit sie wenigstens ein kleines Einkommen haben. Gerade hier spielt der Schulbesuch eine besonders wichtige Rolle.
Was müsste man politisch verändern?
Grundsätzlich zielt unser Engagement darauf ab, die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen zu verbessern. In den Ländern, in denen Kinderarbeit noch nicht gesetzlich verboten ist, wollen wir dieses Verbot erwirken. In den Ländern, in denen es gesetzlich verboten ist, nehmen wir die Regierungen in die Pflicht, dieses Verbot auch wirklich umzusetzen und dafür zu sorgen, dass es Kontrollmechanismen gibt. Wir müssen darauf hinwirken, dass auch Gelder für die Umsetzung des Gesetzes da sind, auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene. Wir gehen in den Austausch mit politischen Entscheidungsträgern vor Ort, weisen sie auf diese Missstände hin und versuchen durch öffentlichen Druck dafür zu sorgen, dass auch der Staat seiner Verantwortung nachkommt. Selbstverständlich muss man auch die Wirtschaft in die Pflicht nehmen und dafür sorgen, dass es entlang der Zulieferkette keine Kinderarbeit gibt. Das kann dann soweit gehen, dass man den Mutterkonzern anspricht, der eventuell in Deutschland sitzt. Unsere Forderung ist, dass die Lieferkette transparent ist und dass Kinderarbeit und andere Menschenrechtsverletzungen ausgeschlossen werden.
In Deutschland gibt es offiziell keine Kinderarbeit. Inwieweit ist Deutschland dennoch mit dem Thema konfrontiert?
In Deutschland gibt es offiziell nicht zuletzt deswegen keine Kinderarbeit, weil keine Daten dazu erhoben werden. Was wir in unseren Projekten in Deutschland feststellen, ist, dass Flüchtlingskinder in Deutschland durchaus Kinderarbeit leisten, weil sie beispielsweise die Schulden bei ihren Schleusern abzahlen müssen oder weil sie Verwandte in der Heimat haben, die das Geld zum Überleben brauchen. Oder weil sie einfach nicht mit dem auskommen, was ihnen hier zur Verfügung gestellt wird. Diese Kinder gehen auf die Straße und betteln, was dann als Kinderarbeit bezeichnet werden kann, weil das Betteln von Erwachsenen organisiert wird und die Kinder einen Teil des Geldes abtreten müssen. Andere Kinder arbeiten im Drogenhandel oder in der Prostitution. Aber diese Fälle werden nicht systematisch statistisch erhoben. Deswegen sagt die Bundesregierung, dass es keine Kinderarbeit gibt.
Was fordert terre des hommes bezüglich der Flüchtlingskinder von der Bundesregierung?
Auf nationaler Ebene muss die Bundesregierung alle Flüchtlingskinder kinder- und jugendgerecht unterbringen und Schutzräume speziell für Mädchen schaffen. Der Familiennachzug sollte bei unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen ermöglicht werden. Dann muss die Regierung definitiv Daten zu Kinderarbeit in Deutschland erheben. Alle Flüchtlingskinder brauchen ferner einen Zugang zu qualitativ hoher Bildung. Flüchtlingskinder müssen an der Erarbeitung und Umsetzung von Schutzmaßnahmen gegen Gewalt und Ausbeutung beteiligt werden. Zudem muss therapeutische Hilfe für die oft traumatisierten Kinder und Jugendlichen bereitgestellt werden. Auf internationaler Ebene muss die Bundesregierung für einen sofortigen Waffenstillstand in Nahost und die strikte Einhaltung des humanitären Völkerrechts eintreten. Das Recht eines jeden Kindes auf Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung und Missbrauch muss angewendet und durchgesetzt werden. Die Regierung muss sichere Fluchtwege aus Krisengebieten schaffen. Auf der EU-Ebene muss es eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten geben, damit Flüchtlingskinder vor Arbeit geschützt sowie Vorsorge und Schutzmaßnahmen etabliert werden. Zudem muss Bildung und Zugang zu gesicherter Arbeit für diese Kinder und Jugendlichen ebenfalls gewährleistet werden.
Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: choices.de/thema und engels-kultur.de/thema
Aktiv im Thema
www.tdh.de | Homepage von terre des hommes. Hilfe für Kinder in Not
www.unicef.de | Homepage UNICEF (Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen)
www.aktiv-gegen-kinderarbeit.de | Umfangreichste, öffentlich zugängliche und deutschsprachige Wissensdatenbank rund um das Thema „ausbeuterische Kinderarbeit“
www.kindernothilfe.de | Eines der größten christlichen Hilfswerke in Deutschland, das sich seit 1959 für Not leidende Kinder einsetzt
Thema im Januar BIOKOST
Von der Graswurzelbewegung zum Milliardengeschäft
Wie erkennen wir, was wirklich bio ist? Was kommt Ihnen (nicht) auf den Tisch? Schreiben Sie uns unter meinung@trailer-ruhr.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ware Kind
Der Kinderhandel blüht, auch in westlichen Staaten – THEMA 12/16 KINDERSEGEN
Ignoranz verboten
Fangt endlich an, euch zu informieren – Thema 12/16 Kindersegen
Unter Kontrolle
Kindheit zwischen GPS-Tracker, Playdates und Bildungsauftrag in der Kita – THEMA 09/15 WELTENKINDER
„Man kann nicht alles an einem Kind verderben“
Pädagogin Lisette Siek-Wattel über Kindheit heute, Werte und Toleranz – Thema 09/15 Weltenkinder
Angst essen Werte auf
Die Politik hat den Eltern den Glauben an die Herzensbildung ausgetrieben – Thema 09/15 Weltenkinder
Haben Sie ein Wahlprogramm für Kinder?
Die Kandidaten der OB-Wahlen in Bochum und Essen antworten
„Die Kategorie Migrationshintergrund hat Macht“
Teil 1: Interview – Migrationsforscher Simon Moses Schleimer über gesellschaftliche Integration in der Schule
„Ein Überbietungswettbewerb zwischen den EU-Staaten“
Teil 2: Interview – Migrationsforscherin Leonie Jantzer über Migration, Flucht und die EU-Asylreform
„Es braucht Kümmerer-Strukturen auf kommunaler Ebene“
Teil 3: Interview – Soziologe Michael Sauer über Migration und Arbeitsmarktpolitik
„Nostalgie verschafft uns eine Atempause“
Teil 1: Interview – Medienpsychologe Tim Wulf über Nostalgie und Politik
„Früher war Einkaufen ein sozialer Anlass“
Teil 2: Interview – Wirtschaftspsychologe Christian Fichter über Konsum und Nostalgie
„Erinnerung ist anfällig für Verzerrungen“
Teil 3: Interview – Psychologe Lars Schwabe über unseren Blick auf Vergangenheit und Gegenwart
„Genießen der Ungewissheit“
Teil 1: Interview – Sportpädagoge Christian Gaum über das emotionale Erleben von Sportevents
„Viele Spiele haben noch einen sehr infantilen Touch“
Teil 2: Interview – Medienpädagoge Martin Geisler über Wandel in der Videospiel-Kultur
„Ich muss keine Konsequenzen fürchten“
Teil 3: Interview – Spieleautor und Kulturpädagoge Marco Teubner über den Wert des Spielens
„Mosaik der Perspektiven“
Teil 1: Interview – Miriam Bruns, Leiterin des Goethe-Instituts Budapest, über europäische Kultur
„Die Bürger vor globalen Bedrohungen schützen“
Teil 2: Interview – Politikwissenschaftler Oliver Treib über Aufgaben und Zukunft der Europäischen Union
„Der Verkauf des Kaffees nach Europa ist gestoppt“
Teil 3: Interview – Sebastian Brandis, Sprecher der Stiftung Menschen für Menschen, über das EU-Lieferkettengesetz
„Wir müssen mit Fakten arbeiten“
Teil 1: Interview – Meeresbiologin Julia Schnetzer über Klimawandel und Wissensvermittlung
„Tiefseebergbau ohne Regularien wäre ganz schlimm“
Teil 2: Interview – Meeresforscher Pedro Martinez Arbizu über ökologische Risiken des Tiefseebergbaus
„Entweder flüchten oder sich anpassen“
Teil 3: Interview – Klimaphysiker Thomas Frölicher über ozeanisches Leben im Klimawandel
„Prüfen, ob das dem Menschen guttut“
Teil 1: Interview – Publizist Tanjev Schultz über ethische Aspekte der Berichterstattung über Kriminalfälle
„Es liegt nicht am Gesetz, Kriminalität zu verhindern“
Teil 2: Interview – Kriminologe Dirk Baier über Gewaltkriminalität und Statistik
„Eltern haben das Gefühl, sie müssten Buddhas werden“
Teil 3: Interview – Familienberaterin Nina Trepp über das Vermeiden von psychischer Gewalt in der Erziehung
„Naturschutz wirkt“
Teil 1: Interview – Biologin Katrin Böhning-Gaese über Biodiversität, Wildtiere und Naturschutz