Welchen Bezug haben Weltautoren wie Louis-Ferdinand Céline, Malcolm Lowry, Hubert Fichte, Danilo Kiš, James Hamilton Paterson, William Gass, Richard Powers, Jorge Louis Borges, Herman Melville, Daniil Charms, Ezra Pound, Pier Paolo Pasolini, Inger Christensen und Raymond Federman zu Essen? Sie alle sind im Literaturmagazin „Schreibheft“ vertreten – mal mit Texten oder Textauszügen, mal als Gegenstand von Essays. Als diese Publikation im Jahr 1977 aus einer Schreibwerkstatt der Essener Volkshochschule heraus gegründet wurde, ahnte sicherlich noch niemand, dass hiermit der Grundstein für ein Magazin gelegt wurde, das einmal zu den wichtigsten Literaturzeitschriften im deutschsprachigen Raum zählen würde und darüber hinaus auch die internationale Szene wegweisend begleiten sollte.
Literarische Echoräume
Im September dieses Jahres erschien die 74. Ausgabe des Heftes, kurz darauf drang durch, dass Norbert Wehr mit dem Literaturpreis Ruhrgebiet 2010 ausgezeichnet wird. Norbert Wehr stieß ein Jahr nach der Gründung zur Redaktion des Magazins und hat seit 1982 das (Schreib-)Heft in der Hand. Dabei hat er einen Weg eingeschlagen, der das Magazin aus der Menge ähnlicher Publikationen heraushebt: In Schwerpunkt-Dossiers widmet sich jede Ausgabe einem anderen Gegenstand. So gibt es Schwerpunkte zu bestimmten Autoren oder sogar zu einem einzigen Buch – so geschehen zu Herman Melvilles „Moby Dick“, zu dessen Ehren das „Schreibheft“ ganz in weiß gebunden erschien.
Auch literarische Gruppen wie die Sprachspieler von Oulipo oder auch Länder- oder Regionenliteraturen aus Serbien, Kroatien, Flandern, Norwegen oder Polen werden vom „Schreibheft“ unter die Lupe genommen. Eng an diese Dossiers knüpfen die weiteren Beiträge des Heftes an. Literarisch oder wissenschaftlich umkreisen sie das Hauptthema, unterfüttern es mit biographischen Details oder Hinweisen zu Übersetzungsfragen. Schriftsteller reagieren auf das Sujet, geben Antworten und stellen neue Fragen. Der von Norbert Wehr gesetzte Anspruch ist es, „ein Gespräch zwischen Schriftstellern, ihren Büchern und Konzepten zu inszenieren sowie geistesverwandte Echo-Räume und kommunizierende Röhrensysteme herzustellen“. Das klingt zunächst elitär, und in der Tat zählt der Gelegenheitsleser, der sich von einem Buch nicht mehr als Ablenkung und Entspannung verspricht, nicht zur Zielgruppe des „Schreibheftes“.
Doch wer sich darauf einlässt, auch Themenfelder zu beschreiten, die auf den ersten Blick unübersichtlich, womöglich gar wenig verlockend erscheinen, hat im „Schreibheft“ stets einen formidablen Reiseführer an der Hand, der mit Insidertipps abseits ausgetretener Pfade nicht geizt und die Augen auch für das Schöne im Unscheinbaren zu öffnen vermag.
Auf Spurensuche
Dabei gelingt Norbert Wehr eine ausgewogene Balance zwischen Neu- und Wieder-Entdeckungen. Er ist nicht nur am Puls der zeitgenössischen Avantgarde, sondern rückt auch Schriftsteller in den Fokus, die für heutige Autoren Wege geebnet haben und dennoch beim Literaturpublikum in Vergessenheit zu geraten drohen. Dabei gebiert sich Wehr keinesfalls als Literaturpapst, sondern sieht sich selbst in der Rolle eines stets Suchenden: „Mithilfe der Zeitschrift komme ich auf bestimmte Spuren. Ich habe Autoren nicht vorher entdeckt, sondern ich entdecke sie mithilfe der Experten, mit denen ich jeweils zusammenarbeite.“ Seine eigene Neugierde ist Ausgangspunkt für jede neue Ausgabe – eine Eigenschaft, die er sich auch beim Leser wünscht.
Kontinuität vs. Kulturhauptstadt
Auch wenn Norbert Wehr bereits seit Jahren privat in Köln lebt, hat er nie daran gedacht, den Essener Redaktionssitz des Magazins aufzugeben. Er blickt zurück auf fast 30 Jahre hochkarätiger literarischer Veranstaltungen in Essen, mit denen er bewiesen hat, dass es nicht unbedingt eines Literaturhauses bedarf, um Weltliteraten ins Ruhrgebiet zu locken. Mit Engagement, Herzblut und Beharrlichkeit konnte er neben vielen anderen Paul Auster, Vladimir Sorokin, Siri Hustvedt, Imre Kertész, Jaques Roubaud oder Peter Esterhazy präsentieren – lange Zeit im Grillo-Theater, seit Anfang 2010 im Museum Folkwang. Das Label „Kulturhauptstadt“ hat er in diesem Jahr selbstbewusst von sich gewiesen: „Wir haben einfach weiter gemacht wie zuvor. Und das machen wir auch in den nächsten Jahren, wenn das Kulturhauptstadtjahr vorbei ist.“
Dass er mit dieser Arbeit, die sich beharrlich einer Vereinnahmung durch das Ruhrgebiet entzieht, die Jury des Literaturpreises Ruhrgebiet überzeugen konnte, überraschte Norbert Wehr selbst, wie er in seiner Dankesrede zur Preisverleihung unumwunden zugab: „Ich habe immer geglaubt zu spüren, dass ich mit dem, was ich tue, im Verständnis, im Blick dieser Szene nicht dazugehöre, und zwar deshalb, weil es nicht die herkömmlichen Ruhrgebietsautoren sind, die ich publiziere, und weil das Ruhrgebiet vordergründig kein Stoff ist, der mich für meine Zeitschrift interessiert.“
Die leidigen Finanzen
Das Preisgeld von 10.000 Euro wird der umtriebige Herausgeber umgehend wieder in das „Schreibheft“ investieren, für dessen weitere Finanzierung er sich trotz seines vorzüglichen Rufes von Ausgabe zu Ausgabe hangeln muss. Aber schon 2008, zum 30jährigen Jubiläum des Magazins, gab Norbert Wehr zu Protokoll: „Wenn man die Zeitschrift finanziert kriegt, jede Zeitschrift ist subventionsabhängig, und wenn man genug Ideen hat, kann man immer noch weitermachen. Ich hab jedenfalls noch genug Ideen. Und die Zeitschrift ist für mich immer noch, auch nach dreißig Jahren, das interessante Kommunikations- und Erkenntnismittel, und da hat sich nichts geändert. Es hat keine andere Beschäftigung gegeben, die für mich so interessant geblieben wäre wie diese. Man müsste mich zwingen, damit aufzuhören. Freiwillig damit aufzuhören, ist fast unmöglich.“
Es ist ein altes Klischee, wenn Musiker, Autoren oder andere Kreative behaupten, nur das zu tun, was ihnen selbst Spaß macht – bei Norbert Wehr klingt das authentisch, um kurzfristige Modeerscheinungen hat sich das „Schreibheft“ nie geschert.
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