Die Apokalypse hat gerade Hochkonjunktur: Krisen, Kriege und Katastrophen wohin man schaut, Weltuntergangsstimmung als Lebensgefühl einer Generation, die sich in Teilen selbst(bewusst) als die letzte bezeichnet. In seinem Lyrikband „Gedichte für das Ende der Welt“ spürt Thomas Dahl dem Gefühl der Angst nach. Der Countdown läuft: „Neunhundert Sekunden / Bis zum Ende der Welt“, sagt eines der Gedichte vorher. Diese Galgenfrist wird allerdings weder genutzt, um den drohenden Untergang abzuwenden, noch, um sie mit Mitmenschlichkeit zu füllen, sondern, „um noch schnell ein paar Erfolge einzufahren / Konkurrenten auszuschalten / Andersdenkende zu schinden / neue Schandmale zu erschaffen / noch auf den allerletzten Runden / So viel Tod wie möglich aufzubahren.“
Dennoch ist die Lage nicht völlig aussichtslos, auch wenn noch nicht klar ist, was nach der „Stunde Null“ kommt. In dem Gedicht „In Love with Zero“ feiert der Autor die Null als Zahl der potenziell unbegrenzten Möglichkeiten: „Für Positiv-Gesinnte / Immer Raum nach oben / Mit 1A-Ausblick in den Abgrund.“ Unbegrenzte Möglichkeiten bietet für Thomas Dahl jedoch vor allem die Sprache. Gerade in der formalen Beschränkung auf Wörter mit dem gleichen Anfangsbuchstaben entfaltet er in dem Gedicht „Worte wie wir“ die Wirkmacht einer Sprache, die Berge versetzen könnte.
Laut der biblischen Genesis waren es angeblich Worte, die die Welt und alle Geschöpfe ins Leben riefen. Warum sollte dann ihr Untergang schweigend vonstattengehen? Thomas Dahl hat mit seinen 50 Gedichten keine lyrische Begleitmusik unserer ebenso krisengeschüttelten wie untergangsverliebten Gegenwart geschrieben, sondern ein intensives und manchmal schmerzhaftes Anschreien und Anflüstern gegen Grabesruhe und falsches Schweigen, ein Plädoyer für das Wort, das Gewicht hat, weil es erschafft und vernichtet, segnet und verflucht. Doch wie sieht es nach der Apokalypse aus? Spricht dann noch jemand in die Totenstille hinein – und welche Worte hätten die Kraft, nicht einfach denselben Teufelskreis von vorne beginnen zu lassen? Bei Thomas Dahl klingt das so: „Wer fegt dann die Reste fort? / Wer fügt sie an den neuen Anfang? / Wehe dem ersten / Und wehe auch dem letzten / Wort.“
Gedichte für das Ende der Welt | Twentysix Epic | 118 S. | 14 Euro
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Im Spiegel zweier Sprachen
„Wandersalon“ mit Orsolya Kalász und Andy Vazul – das Besondere 05/18
Kulturkritisches Kaleidoskop
Barbara Köhler liefert in Essener Buchhandlung Proust lyrisches Türkei-Portrait – Literatur 04/16
Repetitive Einsamkeit
Comics aus der (inneren) Isolation – ComicKultur 07/24
Eine unglaubliche Geschichte
„Die Komponistin von Köln“ von Hanka Meves – Textwelten 07/24
Blicke auf Augenhöhe
„Die Blumenfrau“ von Anne-Christin Plate – Vorlesung 07/24
Warten auf Waffenruhe
„Wann ist endlich Frieden?“ von Elisabeth Raffauf – Vorlesung 06/24
Allzu menschlicher Sternenkrieg
Annäherungen an Philosoph:innen und Filmemacher:innen – ComicKultur 06/24
Wie bedroht ist die Liebe?
„Reichlich spät“ von Claire Keegan – Textwelten 06/24
Gärtnern leicht gemacht
„Bei mir blüht’s!“ von Livi Gosling – Vorlesung 05/24
Abenteuerferien an der Ostsee
„Am schönsten ist es in Sommerby“ von Kirsten Boie – Vorlesung 05/24
Stabilisieren des inneren Systems
Volker Buschs Ratgeber zur mentalen Gesundheit – Literatur 05/24
Stadt der Gewalt
„Durch die dunkelste Nacht“ von Hervé Le Corre – Textwelten 05/24
Von Kant bis in die Unterwelt
Zarte und harte Comicgeschichten – ComicKultur 05/24
No hope im Paradise
Arbeitswelten im Fokus einer Lesung in Dortmund – Literatur 04/24
Kindheit zwischen Buchseiten
„Die kleinen Bücher der kleinen Brontës“ von Sara O’Leary und Briony May Smith – Vorlesung 05/24
Grenzen überwinden
„Frieda, Nikki und die Grenzkuh“ von Uticha Marmon – Vorlesung 04/24
„Ich komme mir vor wie Kassandra“
Jaana Redflower über ihren Roman „Katharina?“ und das neue Album der Gamma Rats – Interview 04/24
Erwachsen werden
„Paare: Eine Liebesgeschichte“ von Maggie Millner – Textwelten 04/24
Female (Comic-)Future
Comics mit widerspenstigen Frauenfiguren – ComicKultur 04/24
Von Minenfeldern in die Ruhrwiesen
Anja Liedtke wendet sich dem Nature Writing zu – Literaturporträt 04/24
Wortspielspaß und Sprachsensibilität
Rebecca Guggers und Simon Röthlisbergers „Der Wortschatz“ – Vorlesung 03/24
Lebensfreunde wiederfinden
„Ich mach dich froh!“ von Corrinne Averiss und Isabelle Follath – Vorlesung 03/24
Spurensuche
Comics zwischen Wirklichkeit, Fantasie und Spektakel – ComicKultur 03/24
Das alles ist uns ganz nah
„Spur und Abweg“ von Kurt Tallert – Textwelten 03/24
Wut ist gut
„Warum ich Feministin bin“ von Chimamanda Ngozi Adichie – Vorlesung 03/24