Anfang April wurde der mit eigenem Bildmaterial illustrierte Gedichtband „Istanbul, zusehends“ der in Duisburg lebenden Dichterin Barbara Köhler mit dem Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik ausgezeichnet. Eine aktuelle Lesung der Autorin transportierte künstlerisch die Spuren des politischen Widerstands in der zunehmend autoritär regierten Türkei.
Als „herausragende Neuerscheinung des Jahres 2015“ wurde der im renommierten Düsseldorfer Lilienfeld-Verlag erschienene illustrierte Lyrikband bei der Verleihung des Peter-Huchel-Preises gewürdigt: „Mit dem doppelten Blick der Fotografin und Dichterin formuliert Barbara Köhler in ihrem Gedichtband ‚Istanbul, zusehends‘ eine Liebeserklärung an eine Stadt, die ihr immer zugleich fremd und vertraut bleibt“, so die Jury des mit 10.000 Euro dotierten Preises, den bereits Lyrikschaffende wie Ernst Jandl (1990) und Friederike Mayröcker (2010) erhielten, in ihrer Begründung. Bei einer Vorstellung von Köhlers Werk in der gut gefüllten Essener Buchhandlung Proust am 7.4. zeigte sich neben der Faszination für das Fremde jedoch auch ein gewisses Befremden der Autorin angesichts der zugespitzten politischen Lage in der eurasischen Mega-City. Ein aggressiv geführter Kommunalwahlkampf mit beinahe allgegenwärtiger Polizeipräsenz samt Wasserwerfern lieferte während eines mehrwöchigen Stipendienaufenthalts der Autorin im Frühjahr 2014 genügend Stoff für eine entsprechend kritische literarische Reflexion des Geschehens.
Wie einst bei Ernst Jandl spielt die Typographie eine gewisse Rolle in Barbara Köhlers oftmals prosalyrischen Texten – so fungiere die „Form“ als „Widerstand“, erläutert die Lyrikerin. Indem ihre mit Illustrationen korrespondierenden ‚nicht traditionellen Gedichte‘ mit exakt derselben Zeichenzahl pro Zeile im „ausgezählten Blocksatz“ gesetzt seien, werde auch typographisch ein Rahmen sichtbar gemacht. Die Zeichenzahlbegrenzung diene zum einen zur Pointierung des lyrischen Textes – zum anderen werde durch seine (nur punktuell durch ein einziges Ausrufezeichen realisierte) bewusste Durchbrechung die Möglichkeit zur Akzentuierung einer poetischen Botschaft gegeben. Diese sei, so heißt es in der Jury-Begründung, zuweilen dezidiert politisch: „Ein raffiniertes Netz von Sprachbildern und Bildsprache knüpft einen fliegenden lyrischen Teppich, der ganz selbstverständlich im Alltag auch die Wucht des Politischen einfängt.“ Die Autorin selbst sieht eher „Spuren des Politischen“ in ihrem Werk, die sich vor allem in den Texten niederschlagen – weniger in den Illustrationen: „Die Bilder haben Sie alle abrufbar – die werden medial reingestanzt; das muss ich nicht wiederholen.“
Besonders haften geblieben sei ihr das Szenario jener „Totenstille“ in Instanbul anlässlich des durch staatliche Gewalt herbeigeführten Todes eines 15-Jährigen, der nach neun Monaten im Koma starb, nachdem er auf dem Weg zum Bäcker von einer Tränengas-Kartusche am Kopf getroffen wurde: „Die Stadt war still, was sonst nie war.“ Als Zeichen des Protestes gehen Menschen mit Brotleibern unter dem Arm durch die Straßen. „Auch wenn es kein Wort gibt für die Stille, gibt es sie“, pointiert Barbara Köhler das stille Protestgeschehen.
Zudem arbeitet sich die Autorin nicht nur im touristischen Stadtteil Beyoğlu am „visuellen Überangebot“ der „Zumutung Istanbul“, dem „unabsehbaren Ausmaß der Stadt“ ab. Auch sieht sie sich „direkt verfolgt von Blicken sozialer Kontrolle“ wie „bewusst angebrachter Überwachungskameras“. Lyrisch wird Istanbul zur „Augenstadt“ und „Überforderungszone“ mit ihren „Augen der Überwachungskameras – schlaflos in keiner Nacht“. Wortspielerisch kulminiert dies in Synonymen für die Bosporus-Metropole wie „Polizistanbul“ und „Futuristanbul“. Auf dass niemals eine Einschränkung künstlerischer Freiheit solche Kritik ersticken möge!
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