Den unbekannten Dieben sei vielleicht Dank, dass sie im September 2020 diese Ingeborg-Bachmann-Büste in Klagenfurt stahlen. Denn wirklich gerecht werde es einer der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller:innen nicht, wie Gertraud Klemm an diesem Abend erwähnt, dass ihre Heimatstadt zu Bachmanns Andenken nur einen unscheinbaren Bronzeschädel auf eine große Marmorsäule aufpfropfte.
Klemm muss es wissen. Schließlich war sie als Stadtschreiberin ein Jahr in Klagenfurt tätig. Und dort bemerkte sie sehr früh, dass sich zwar der renommierte Literaturpreis mit Bachmanns Namen schmückte. Ansonsten sei sie jedoch nicht im Stadtraum präsent, nicht auf Straßenschildern, nicht als Statue. Während die Kriegsherren an allen Ecken in Stein verewigt seien, wie Klemm scherzt: „Als Reiter sitzen sie auf Pferden und sogar die haben Hoden.“
Die Rache der Seepferdchen
Ein Thema sind solche Reiterstandbilder auch in ihrem aktuellen Roman, aus dem Klemm im Literaturhaus Dortmund las. „Hippocampus“ erzählt vom ungerechten und patriarchalen Literaturbetrieb, aber auch von einer feministischen Rache, deren Objekt die männlichen Genitalien der Pferdestatuen sind. Denn ihre Protagonistin Elvira Katzenschlager, eine Alt-68erin, sprüht auf diese Reiterstandbilder Seepferdchen, jenes Meerestier, bei dem die Männchen die befruchteten Eier ihrer Partnerin in ihrem eigenen Buch ausbrüten.
Klemms Figur rächt sich mit dieser ungewöhnlichen Aktion für ihre Freundin, die fiktive österreichische Schriftstellerin Helene Schulze, um deren Tod es in „Hippocampus“ geht, oder vielmehr um ihr Nachleben. Denn jetzt, nachdem die unbequeme Avantgardistin und Feministin verstarb, schmücken sich in der Branche alle mit ihren Namen: Der Literaturbetrieb platziert ihren post mortem publizierten Roman auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises; und sogar der „kleine dicke Kritiker“, der ihr Werk zuvor beim Bachmann-Wettbewerb noch verriss, erscheint bei ihrer Beerdigung. „Hippocampus“ sei auch eine Hommage an die 2010 verstorbene Autorin Brigitte Schwaiger, wie Klemm betont.
Ältere Frau, junger Mann
Der Romantitel spielt auf die Gehirnregion an, die eine Schaltfunktion zwischen dem Kurz- ins Langzeitgedächtnis gewährleistet – bei Klemm als Symbol für die Erinnerungskultur. Und „Hippocampus“ entpuppt sich auch schnell als ein antipatriarchaler Roman gegen eine heuchlerische Vereinnahmung einer verstorbenen Autorin durch den Literaturbetrieb. Trotzdem eröffnet das erste Kapitel, aus dem Klemm an diesem Abend liest, eine männliche Perspektive. Warum, das erklärt, die Wienerin so: „Irgendwann brauchte ich ein Gegenüber, das unreflektiert ist und zurückredet.“ Dieses Gegenüber von Elvira heißt Adrian, ist ein Kameramann Ende Zwanzig und landet mit der Alt-68erin im Bett. „Ich wollte endlich ein Buch schreiben, in der eine ältere Frau und ein junger Mann Sex haben und es richtig zur Sache geht“, erklärt Klemm.
Das lässt sich auch als Umkehr der Philip Roths oder Martin Walsers deuten, die nie mit Altherrenfantasien geizten – unter feuilletonistischem Applaus. Auch im Literaturbetrieb, insbesondere im Kanon, gibt es eine männliche Repräsentation. Klemm umschreibt das an diesem Abend mit einer Zoo-Metapher: „Das Wichtigste ist, den richtigen Platz zu finden. Denn der Zoo wird nicht großer.“ Ihr Ziel sei die „Elefantenecke“. Zu dieser gehört sicherlich auch Ingeborg Bachmann. Denn für die österreichische Autorin soll bald endlich ein richtiges Denkmal errichtet werden. Auch als Motiv für touristische Selfies.
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