Schon wieder ist es Mündendorf, in das es Martin Beckers Protagonisten verschlägt. Bereits im 2017 erschienenen Roman „Marschmusik“ war es dieser Ort am Rande des Ruhrgebiets. Hierhin kehrte damals ein junger Radiojournalist zurück, tief in ein provinzielles Malochermilieu, bevölkert von Kettenrauchern und Pegeltrinkern. „Marschmusik“ drehte sich um die verschwindende Welt von Bergleuten, die ein wortkarges Dasein pflegten und dem Bierkonsum nicht abgeneigt waren.
Diesmal, in „Kleinstadtfarben“ erzählt Martin Becker vom Polizisten Peter Pinscher, der aus einer Stadt am Rhein nach Mündendorf versetzt wird, in den Ort seiner Herkunft. Becker wuchs selbst in einer Arbeiterfamilie auf, in der sauerländischen Stadt Plettenberg, nicht weit entfernt vom Ruhrgebiet, wo sein Vater unter Tage arbeitete. Und so überrascht es nicht, was der Schriftsteller und Radiojournalist bei seiner Lesung im Literaturhaus Dortmund über seine Romanwelten gesteht: „Ich bin da relativ einfallslos, fast alle Figuren sind Variationen von mir.“
Alkohol zur Schmerztablette
Ein wenig anders verhält es sich jedoch bei diesem Peter Pinscher, wie Becker ergänzt: „Er ist möglichweise ein naher Verwandter des Autors.“ Aber: „Was als Fiktion hinzukommt, ist, dass ich ein Buch schreiben wollte über einen Kommissar bei der Polizei.“ Dieser Pinscher, Mitte 40, ist kleinwüchsig und übergewichtig, „hundertdreißig Kilo Ischias-Qual“. So spült Pinscher die Schmerztablette gerne auch mit Alkohol herunter und saugt sich fest an die Zigaretten, wenn er sich kurzatmig durch seinen Berufsalltag schleppt.
Zuweilen erinnert Beckers Figur an den Privatdetektiv Simon Brenner aus Wolf Haas‘ gleichnamiger Kult-Krimi-Reihe. Diese Parallelen treffen nicht nur auf die dickliche Statue und das Junggesellendasein zu, sondern auch auf Pinschers eigensinniges Verhalten. Als er etwa mit einem Rollstuhlfahrer konfrontiert ist, der auf offener Straße den Hitlergruß zeigt und von der Waffen-SS schwärmt, dreht ihm Pinscher die Ventile aus den Reifen. Eine von vielen skurrilen Szenen, die Becker an diesem Abend liest und die im Roman früh zu Pinschers Versetzung wider Willen an seinen Herkunftsort führt.
Gelsenkirchener Barock
Obwohl es bekanntlich ein beliebtes Motiv von Polizeigeschichten ist, dass die Protagonisten von verärgerten Chefs zwangsversetzt werden, dreht sich Beckers Rückkehr nach Mündendorf genauso um Themen wie Tod und Trauer. Es geht in „Kleinstadtfarben“ auch um die an Demenz erkrankte Mutter, die Pinscher täglich besucht oder um den verstorbenen Vater. Und wie schon in „Marschmusik“ gelingt Becker damit eine melancholische Versenkung in das Milieu der Arbeiterklasse; nicht als soziologische Reflexion oder wütende Anklage wie bei Edouard Louis und Christian Baron, sondern als detaillierte Beschreibung, etwa von einer Schrankwank im elterlichen Wohnzimmer, Gelsenkirchener Barock, „bezahlt in sechsunddreißig Raten, dunkle Eiche furniert, der Beweis für den Wohlstand der kleinen Leute, die holzgehackte Bestätigung des eigenen Angekommenseins, das handfeste Lebensarchiv der proletarischen Kleinstadtfamilie.“
So liegt ein Reiz von „Kleinstadtfarben“ darin, dass hier einer erzählt, der sich mit dem proletarischen Leben auskennt; auch mit dem Hang des harten Arbeitermilieus, einen Hund oder einen Wellensittich zu halten. Im Roman werden sie Tiere zum Trost angeschafft. Und Becker erklärt an diesem Abend: „Der Wellensittich war für mich das Sinnbild eines bestimmten Milieus, des Arbeitermilieus.“
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