Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
23 24 25 26 27 28 29
30 31 1 2 3 4 5

12.583 Beiträge zu
3.812 Filmen im Forum

Zu Gast mit ihrem Debütroman: Luba Goldberg-Kuznetsova in Dortmund
Foto: Benjamin Trilling

Schlendern durch die Schwelle

26. April 2019

„Lubotschka“ von Luba Goldberg-Kuznetsova am 25.4. im Literaturhaus Dortmund – Literatur 05/19

Endlich liegt die Schulzeit hinter ihr. Gemeinsam mit ihrer Freundin Olesja liegt Luba Goldberg-Kuznetsovas namenlose Ich-Erzählerin in einem kleinen Park in St. Petersburg. Auf einem Markt stöbert sie schließlich an diesem Sommertag mit ihrer Freundin nach einem Kleid für ihren Abschlussball. In der Hoffnung, „zwischen den ganzen illegal importierten Made-in-China-Gummischlappen und Bergen billiger Polyesterunterwäsche, die eine bunte Landschaft unter dem freien Himmel bilden, ein anständiges Kleid zu finden.“

Ja, so sieht es aus, das Russland unter Putin: Während Berge an Waren das westliche Freiheitsversprechen und die turbokapitalischen Verheißungen einlösen, ragt die autoritäre Vergangenheit des Stalinismus und Zarismus in die Gegenwart. Luba Goldberg-Kuznetsova beschreibt diesen Umbruch in „Lubotschka“ aus der Sicht einer 18-Jährigen. Im Literaturhaus Dortmund las die Autorin im Rahmen der Reihe LiteraturAufRuhr aus ihrem Debütroman.

Gedankenversunken erinnert sich diese Ich-Erzählerin an die Lounge-Pakete, die damals aus Deutschland kamen, nachdem Gorbatschow in der Sowjetunion Zoll und Grenzen lüftete. Oder an die trostlose Zeit im Internat. „Meine Protagonistin und ich haben beide nie die Schulzeit gemocht“, erzählt Goldberg-Kuznetsova an diesem Donnerstagabend. „Dieser Mangel an Privatsphäre ist das Schlimmste am Internat.“ Literarisch stand für diese Erfahrung ein Klassiker Pate: „Der Fänger im Roggen“ des amerikanischen Schriftstellers J.D. Salinger. Ein Zitat hat die gebürtige St. Petersburgerin ihrem Roman vorangestellt: „I like it when somebody digresses. It’s more interesting and all.“ Und diese Abschweifungen eröffnen sich wie bei Salinger im Flanieren: Sein Ich-Erzähler Holden Caulfield streift bekanntlich drei Tage durch Manhattan, um die grausige Schulzeit zu verarbeiten, die er hinter sich ließ. Bei Goldberg-Kuznetsova sind es die Straßen St. Petersburgs, wie die Absolventin des Hildesheimer Studiengangs „Literarisches Schreiben“ verrät: „In diesem Buch geht es sehr viel um um das Schlendern und Spazieren.“

Es ist ein Schlendern durch eine Schwelle. Im Rückblick steht das alte Russland mit der Mangelwirtschaft oder dem Hausen in sogenannten Kommunalkas, vom Staat organisierte Wohngemeinschaften in den Ballungsräumen. Doch beim Durchstreifen der Metropole stößt sie immer wieder auf die Realität der russischen Gegenwart, die ein Berg von Waren ist: vom fliederfarbenen Schal voller Calvin-Klein-Logos bis hin zu den zahlreichen Kosmetik-Produkten, die diese 18-Jährige locken. Der Konsum liefert ihr Freiheitsversprechen und Erfahrungsversatzstücke zugleich. So imaginiert diese Jugendliche kühn in Kategorien: „Wunderlich, wie eine Frau violette oder orangefarbene Lippen tragen und nach dem Trinken ihre Kippe in den Becher werfen und gehen kann. Ich stelle sie mir vor. Sie ist eine Alkoholikerin, weigert sich aber, dies zuzugeben, trägt schwarze Netzstrumpfhosen und gigantischen »goldenen« Schmuck. Sicherlich trägt sie den Lidstrich am unteren Lid und riecht nach Rose. Und nach Wodka und Tabak aus dem Mund. Sie hat spitze Ellbogen und Knie und ein knöcheriges Dekolleté.“

Das neue Russland schenkt seinen Insassen Ellbogenfreiheit. Und bürgt dafür mit Ungewissheit. „Wovon wollt ihr denn dort eigentlich leben?“ Das fragt Olesja, die Freundin dieser Ich-Erzählerin, gleich zu Beginn des Romans. Diese existenziellen Fragen verpackt Goldberg-Kuznetsova zu einer Coming-of-Age-Story über Aufbruch und Schwerelosigkeit im neoliberalen Russland der Gegenwart.

Benjamin Trilling

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Heretic

Lesen Sie dazu auch:

Blutige Füße für schnelle Mode
Jan Stremmels Reportage „Drecksarbeit“ in Dortmund – Literatur 10/23

Kaleidoskop der Identitäten
Slata Roschal in Dortmund – Lesung 07/23

Kerle und ihre Kippen
Autor Domenico Müllensiefen in Dortmund – Literatur 06/23

Postmigrantische Erfahrungen
Lena Gorelik liest in Dortmund – Lesung 03/23

Europäer und Ausgesetzter
Marica Bodrožić‘ „Die Arbeit der Vögel“ in Dortmund – Literatur 02/23

Der Horror der Arbeitswelt
Philipp Böhm liest in Dortmund – Literatur 10/22

Das digitale Prekariat
Autorin Berit Glanz in Dortmund – Literatur 07/22

Der Wellensittich und die Arbeiter
Martin Becker in Dortmund – Literatur 06/22

Zoologie des Literaturbetriebs
Gertraud Klemm im Literaturhaus Dortmund – Literatur 05/22

Highways und Antidepressiva
Lesung mit Olivia Kuderewski in Dortmund – Literatur 10/21

Afrika abseits der Klischees
Gunther Geltinger im Literaturhaus Dortmund – Literatur 11/20

Mit deftigen Innereien für die Authentizität
Tadeusz Dąbrowski mit „Eine Liebe in New York“ am 31.10. im Literaturhaus, Dortmund – Literatur 11/19

Literatur.

HINWEIS