Auch wenn die Bundesregierung mit schlicht neu definiertem Zahlenmaterial das riesige Heer der Arbeitslosen immer weiter dezimiert, bleibt die Auseinandersetzung mit Armut als Folge der Beschäftigungslosigkeit am Theater aktuell. In Bochum steht vier Jahrzehnte nach der berühmten Inszenierung von Peter Zadek wieder Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ auf dem Spielplan. Es ist die Geschichte vom sozialen Abstieg einer stinknormalen jungen Familie, die an eine einfache Zukunft glaubt, den komplizierten Mechanismen der kapitalisierten Gesellschaft aber nicht gewachsen ist. Die netten Pinnebergs von nebenan scheitern auf ganzer Linie. David Bösch zeigt das ganze Spektakel nun in einem überdimensionierten Modellbau-Ensemble aus Pappmaché-Hügeln mit gestreutem Schotter und einem drehbaren Stahl-Globus, an dem die (überflüssigen) Sehnsuchtsprodukte hängen, die zwar die Konsumwelt in Bewegung halten, für Emma und Johannes Pinneberg aber wohl unerreichbar bleiben. (Bühnenbild: Thomas Rupert)
Anders als in Zadeks Mega-Revue fokussiert sich der 150 Minuten-Abend in erster Linie auf das Liebespaar (Maja Beckmann und Raiko Küster), was dazu führt, dass ganze Textpassagen weggestrichen wurden. Das muss kein Manko sein, Fallada hatte 1932 immerhin einen ganzen Roman zur Verfügung, doch gerät der Masochismus, mit dem Pinneberg immer wieder gegen das Unheil anrennt, manchmal etwas stereotyp. Zwischen den vielen sentimentalen Bildern, eingestreuten Zwischenszenen mit Henriette Thimig als altes Lämmchen im selben Interieur der Bühne, verflacht die Brisanz, die hinter der Geschichte steckt, allmählich.
Dazu webt Bösch mit den Figuren von Holger Jachmann und dem Verkäufer (Nicola Mastroberardino) ein ziemlich expressives Netz über das Liebespaar, das die Verhältnisse (Die Welt ist nicht arm, aber der Mensch ist schlecht) eher in eine Karikatur verwandelt, obwohl sie wohl auch die Gegenwart reflektieren sollen. Der Anachronismus zwischen Liebe und (Über-)Leben flackert, aber Maja Beckmann hat nicht die Rollendirektive von Hannelore Hoger damals, und so bleibt zwar die Sentimentalität glücklicherweise ziemlich verborgen, das allzu Brave kann auf Dauer auch kein Feuer entfachen.
Immer wenn die Klamotten an Fäden vom Boden schweben, muss Pinneberg in Berlin, wo sie aus Ducherow inzwischen angekommen sind, ran. Das Verkaufssystem fordert seine ersten Opfer, doch anfangs hat er seinen Gönner. Seine Mutter gehört nicht dazu. Henriette Thimig spielt sie als dauerbetrunkene Ex-Diva mit lieblosem Sexualpartner und melancholischem Mäzen Jachmann, sie ist ein armseliger Lebensjunkie, der nicht in der Lage ist, den Sohn wenigstens einmal in den Arm zu nehmen.
Im Warenhaus Mandel geht man derweil amerikanische Wege. Das bedeutet kaum zu schaffende Verkaufsquoten und ein ewiges „Keep smiling“, selbst wenn man vom Verkaufsleiter gequält wird. Alle Anstrengungen sind vergebens, auch Pinneberg gehört zu den Opfern, da kann er sich am nach oben fahrenden Anzug festklammern, wie er will. Diese Szene gehört zu den wenigen, die im Gedächtnis bleiben werden, ansonsten bleibt der politische Bezug in die Jetztzeit merkwürdig ausgeklammert, die Zeit dehnt sich.
Auf der Bühne geht es dann nahtlos in die letzte Runde: Die gefürchtete Arbeitslosigkeit ist also da, und der Druck auf die kleine Familie wächst. Selbst der schmuddelige Teppich, der sonst ihren ärmlichen Behausungen eine Struktur gab, ist verschwunden. Das belastet auch Pinnebergs Verhalten: Lämmchen und der kleine Muckel müssen nicht nur an der Armut leiden. Dennoch hält Emma verzweifelt an ihrer Liebe fest, hilft der Familie mit bescheidenen Einkünften als Näherin. Bösch lässt ihre Zukunft in seiner Inszenierung unbestimmt, aber düster: Abgelehnte Bewerbungen rieseln zu Tausenden vom Himmel, der die Pinnebergs, wie alle kleinen Leute, irgendwie vergessen zu haben scheint.
„Kleiner Mann – was nun?“ I Mi 8.2., 19.30 Uhr I Schauspielhaus Bochum I 0234 33 33 55 55
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