Der Bühnenraum der Bühne 3 des Ringlokschuppens ist an diesem Freitag (16.6.) bis auf eine große Leinwand an der Rückseite, vier Stühle und ein Technikpult an der Seite leer. Die vier PerformerInnen Ralph Tristan Engelmann, Gesine Hohmann, Kristofer Gudmundsson und Stephan Stock von der freien Theatergruppe vorschlag:hammer brauchen für ihren neuen Theaterabend vor allem Platz, sich zu bewegen. Denn die Inspirationsquelle für ihre neue Inszenierung „I do not believe in styles anymore“ war der chinesische Martial Arts Kämpfer Bruce Lee. Die Gruppe hat im Probenprozess echt und hart trainiert. Doch auch ihre Gedanken brauchen Raum; wer sich auch nur minimal mit Bruce Lee beschäftigt, bemerkt schnell, dass hinter seinen präzisen Schlägen und Tritten auch philosophische Betrachtungen stehen.
Der Abend beginnt still. Auf der Leinwand werden Bruce Lee-Zitate gezeigt, ohne jede Musikuntermalung. Keinerlei Ablenkung ist erlaubt, der Fokus soll glasklar sein. Nacheinander treten die vier PerformerInnen auf, nicht ohne vorher nach chinesischer Sitte ihre Schuhe auszuziehen. Außerdem durchqueren sie den Bühnenraum nicht, sondern umrunden ihn. Denn dort liegt die (imaginäre) Trainingsmatte. Diese betreten zu dürfen, muss sich ein jeder Schüler der Martial Arts zunächst verdienen. Nachdem sich die PerformerInnen in aller Ruhe und ohne ein Wort umgezogen haben, lediglich begleitet von den Klängen eines Bruce Lee Videos auf einem Handy, geben sie eine erste Kostprobe dessen, was sie sich im Training erarbeitet haben. Sie laufen in einer Kreisformation, führen synchron Bewegungen aus. Eine Choreographie zwischen Tanz und Kampfkunst. Hochkonzentriert bewegen sich die PerformerInnen. Es geht ihnen offensichtlich nicht um Perfektion oder darum, dem Publikum Leichtigkeit vorzugaukeln. Vielmehr soll die Anstrengung und die offensichtliche Differenz zur Könnerschaft sichtbar werden.
Die erste Ansprache an das Publikum findet anschließend an diese erste Choreographie statt, frontal und in Reihe, so wie man es bei vorschlag:hammer schon oft gesehen hat. Ebenso vorschlag:hammer-typisch ist auch der Text-Einstieg von Gudmundsson: „Ich bin nicht Bruce Lee“. Das hat Wiedererkennungswert: Zwar spielt hier niemand eine Theaterrolle, jedoch sind sich alle auf der Bühne den Blicken des Publikums zu jedem Zeitpunkt vollkommen bewusst. Überhaupt ist die ganze Atmosphäre typisch für das Kollektiv: Freundlich, konzentriert und ohne jede Hektik. Unaufgeregt arbeitet sich das Kollektiv neunzig Minuten lang an seinem Thema und dessen verschiedenen Facetten ab, wie beispielsweise an der besonderen Beziehung zwischen LehrerInnen und SchülerInnen. Außerdem tauchen immer wieder Bruce Lee Zitate auf, die zwischen amüsanter Belanglosigkeit („Well, in my opinion Kung Fu is pretty good“) und — man möchte fast sagen — Weisheit changieren („A good martial artist does not become tense, but ready.“).
Das Herzstück des Abends bildet, wie auch in jedem Martial Arts Film, eine nicht enden wollende Kampfszene, die in diesem Fall wie eine Trainingseinheit angelegt ist. Begleitet von den Klängen des Refrains von „Shiny blossom girl“ der Synthie-Pop Band „Air“ in Dauerschleife zeigen Engelmann, Gudmundsson, Hohmann und Stock, was sie in den letzten Wochen gelernt haben. Sie sind keinesfalls fertige KämpferInnen, sondern hätten im Gegenteil noch einen unendlich langen Traningsweg vor sich. Sie führen kleine Choreographien vor, boxen, treten, springen, beobachten und korrigieren sich gegenseitig. Bis zu einem gewissen Punkt ist es spannend, ihnen dabei zu zu sehen. Doch irgendwann drängt sich die Frage auf, was sie dem Publikum über ihre persönlichen Erfahrungen hinaus zeigen wollen.
Diese Frage wird schließlich mehr als deutlich in zwei Monologen beantwortet. Der erste trägt „Gewalt als Option menschlichen Handelns“ als Überschrift. Er behandelt die These, dass Gewalt immer auch eine Raumfrage ist — angefangen damit, dass ein Kämpfer stets darauf achtet, niemanden im Rücken zu haben. Dies wird kurzgeschlossen mit den Raum-Konventionen des Theaters, in dem meist einige wenige auf der Bühne stehen und viele dabei zuschauen. Den zweiten Monolog trägt Gesine Hohmann vor, während die drei anderen Performer sich jeder für sich in Lichtkegeln tänzelnd hin und her wiegen. Sie berichtet, was sie über ihren Körper gelernt hat und wie sich ein sogenannter Style entwickelt bzw. über ein damit zusammenhängendes, verbreitetes Missverständnis. Hier erfahren wir, warum der Abend so heißt, wie er heißt. „I do not belive in styles anymore“ ist nicht nur ein weiteres Zitat von Bruce Lee, sondern wird von Hohmann über Karate und Kung Fu hinaus geführt. Sie wendet es auf gesellschaftliche Phänomene an. Ihr Fazit: Der so viel gepriesene eigene Style werde in der Regel schlicht verwechselt — und zwar mit der Nachahmung etwas bereits existierenden, dass lediglich verzerrt wurde.
Die inhaltliche Engführung in diesen zwei großen Texten am Ende ist auf den Punkt, wenn auch etwas überdeutlich ausbuchstabiert. Effekthascherei möchte vorschlag:hammer an diesem Abend übrigens um jeden Preis vermeiden. Denn: „Showing off is the fools idea of glory“ und „If you spend too much time thinking about a thing, you’ll never get it done.“ (Bruce Lee)
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