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Ulrich Greb
Foto: Jörg Parsick-Mathieu

„Die perfekte Festung ist das perfekte Gefängnis“

30. Januar 2025

Ulrich Greb inszeniert Franz Kafkas „Der Bau“ am Schlosstheater Moers – Premiere 02/25

„Der Bau“ ist die letzte Inszenierung von Ulrich Greb als Intendant am Schlosstheater Moers. Im Interview spricht er über die unvollendete Erzählung von Franz Kafka und ihre Parallelen zur Gegenwart.

trailer: Herr Greb, was hat die unvollendete Erzählung „Der Bau“ von Franz Kafka mit heute zu tun? Geht es um die Wiederbelebung der Bauwirtschaft?

Ulrich Greb: Diese Frage muss man sich erstmal auf der Zunge zergehen lassen. Es geht tatsächlich um ein aktuelles Phänomen insofern, dass die Baubranche für Bunkeranlagen gerade wieder boomt. Es scheint einen Trend gerade unter Tech-Milliardären zu geben, sich unterirdische Festungen zu bauen, um die nächste Apokalypse, durch soziale Unruhen, Kriege und Klimakatastrophen bedingt, geschützt vor dem Rest der Welt etwas länger überleben zu können. 

Sicherlich saßen schon zu Zeiten des Neandertalers die Menschen in ihren Höhlen und hatten Angst vor allem und jedem. Daran hat sich nichts geändert – auch bei Kafka nicht, oder?

Die Erzählfigur in Kafkas „Bau“ hat ein großes Misstrauen gegenüber Fremden und gleichzeitig eine tiefe Sehnsucht, dieses Freund-Feind-Denken zu überwinden. Am deutlichsten wird das in dem Bedürfnis nach Ruhe, Stille, Frieden. Das lässt sich natürlich auch weiterdenken – absolute Stille ist erst mit dem Tod zu erreichen. 

Viele werden die Erzählung nicht kennen. Worum geht es überhaupt?

Erzählt wird aus der Perspektive eines Tiers, möglicherweise ein Maulwurf oder Dachs. Dieses Tier hat sich eine unterirdische Festung, einen Bau gegraben, um sich zu schützen, gegen alle möglichen Feinde und Gefahren von außen. Zu Beginn der Erzählung ist dieser Bau gerade vollendet, und das Tier ist stolz auf seine Leistung. Eigentlich könnte es sich zurücklehnen und die Ruhe genießen, doch plötzlich ist da ein Geräusch, eine Art Zischen oder Rauschen. Das Tier versucht angestrengt und letztlich erfolglos, die Ursache des Geräuschs herauszufinden und gerät dabei in eine immer größere Paranoia. Zunehmend wird deutlich, dass die perfekte Festung zum perfekten Gefängnis geworden ist. 

Kann man die Paranoia überwinden? Was können wir heute tun, angesichts der Lage, in der wir uns befinden?

Ich bin da im Moment nicht sehr optimistisch. Wenn man den Text als Parabel lesen will, dringt ein Tier in den Boden ein und okkupiert praktisch das Erdreich. Der Boden gibt Signale von sich, dass das ein selbstzerstörerisches Projekt ist. Das Tier müsste bereit sein, die Sprache und Signale des Bodens zu verstehen und in Kooperation zu treten. Übertragen auf unsere heutige Situation sind Überschwemmungen, Tsunamis und Waldbrände als Signale eines überforderten Biosystems ja kaum zu übersehen. Trotzdem sind wir nicht in der Lage oder willens, entsprechend zu handeln. Im Kafka-Text kommt hinzu, dass die Außenwelt grundsätzlich feindlich eingeschätzt wird und bekämpft bzw. unterworfen werden muss. Auch das kommt uns irgendwie bekannt vor.

Würden die Vermögenden irgendwas ändern wollen? Oder brauchen wir dann doch erst die Apokalypse?

Das ist der Punkt, wo wir dringend Hoffnung brauchen und es mir persönlich gerade nicht leichtfällt, viel Zuversicht zu verbreiten. Theater ist allerdings ohnehin nicht so gut darin, Zuversicht zu verbreiten. Wir stellen eher Fragen und agieren experimentell auf der Bühne aus, was passiert, wenn verschiedene Kräfte aufeinanderprallen. Vielleicht finden die Figuren im Probenprozess ja einen Weg, diesem Dilemma zu entgehen. Günter Grass hat mal in einem Gedicht formuliert: „Das Haus hat zwei Ausgänge / Ich nehme den dritten“

Weil Kafka die Erzählung nicht beendet hat, gibt es keinen Schluss. Wäre einer denkbar gewesen?

Da gehen die Interpretationen auseinander. Man könnte die Geschichte so lesen, dass der einzige Ausweg für das Tier darin besteht, sich vom feindlichen Geräusch überwältigen zu lassen. Das handschriftliche Manuskript hört allerdings mit dem Satz auf: „…alles blieb unverändert, das“. Ob bewusst fragmentarisch oder unvollendet, das ist eine typische Kafka-Volte: Eine Aussage zu relativieren, die Relativierung wieder zu relativieren usw. Mit so einem „stehenden Sturmlauf“ entsteht aber auch ein Loop, der dazu herausfordert, durchbrochen zu werden. Beim chinesischen Lyriker Bei Dao finden sich die Zeilen: „Freiheit ist nichts als / Die Distanz zwischen Jäger und Gejagtem“. Gegen diese niederschmetternde Feststellung lassen wir die Figuren im Bau antreten. Wir sind noch nicht sicher, wie die Geschichte bei uns ausgeht.

Wie pervertiert die Angst vor dem Unbekannten ist, zeigt aktuell das „Bunker Coin“-Projekt in Halberstadt.

Genau. Übrigens interessant an diesem „Bunker Coin“-Projekt ist, dass man da ja nur Anrechte auf Quadratmeter, auf einen Grundriss erwirbt. Du kannst im Moment für 35.000 Euro neun Quadratmeter in der Bunkeranlage reservieren, wo dann vier Personen reinpassen. Das steigert sich bis zu 230 Quadratmetern, aber da sind wir bereits bei zwei Millionen Euro. Das ist aber eigentlich nur ein Versprechen und ein geniales Geschäftsmodell mit der Angst. Ich wäre gespannt, ob sich diese Anrechte im Ernstfall auch so realisieren und ob die Firma dann noch existiert. 

Wie kann aus der kleinen Bühne im Schlosstheater ein gigantisches Labyrinth werden?

Das ist eine Aufgabe für Birgit Angele, die genau solche Spezialaufgaben löst. Sie hat diesmal einen Kubus auf die Bühne gestellt, der aus mehreren tausend transparenten Lamellen besteht. Als wenn man ins Innere einer Meduse, einer Qualle blickt, werden die Lamellen durch Bewegungen lebendig und zu einem eigenen Organismus. Es eine Videoebene, die diesen Organismus von innen zeigt und auf die Außenhaut projiziert wird, sodass die Grenzen zwischen den vier Figuren und dem Organismus, in dem sie sich bewegen, allmählich verschwimmen. Überhaupt ist Morphing ein großes Thema in unserer Inszenierung. Dabei wird uns die italienisch-kanadische Choreographin Alessia Ruffolo unterstützen.

Für Künstler gibt es keinen Ruhestand. Wie wehmütig wird Ihr Abschied aus Moers?

Es wäre sicher gut, es etwas ruhiger angehen und erst einmal eine Leere entstehen zu lassen. Auf der anderen Seite: Neben dem „Bau“ von Kafka gibt es ja noch ein anderes Bauprojekt, an dem viele Menschen in Moers und darüber hinaus schon lange arbeiten. Das Schlosstheater Moers soll nach vielen, vielen Jahren Diskussion und einem Kulturentwicklungsprozess einen Neubau – und zwar einen klimaneutralen Neubau – bekommen, um die prekäre Raumsituation zu lösen. Das ist quasi eine Parallelgeschichte zu Kafka, aber kein Projekt einer Abschottung, sondern einer Öffnung in die Stadtgesellschaft hinein. Theater und nachhaltiges Bauen als Living Lab (übers.: Reallabor, Anm. d. Red.). Die Finanzierung mit Unterstützung durch Bund und Land ist jedenfalls vorhanden – und Beschlüsse hier in der Stadt gibt es auch. Im Frühjahr soll ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben werden. Dieses Bauprojekt werde ich sicher auch in Zukunft sehr neugierig verfolgen. Und ansonsten: Die Intendanz hört auf, die künstlerische Arbeit nicht. 

Der Bau | 16. (Matinee), 20. (P), 23., 26., 28.2. | Schlosstheater Moers | 02841 883 41 10

Interview: Peter Ortmann

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