Manfred Baasner (71) ist Gründer und Leiter der Wattenscheider Tafel. 2013 erhielt er das Bundesverdienstkreuz für seinen Einsatz gegen Armut, mit einem Schwerpunkt auf Kinderarmut.
trailer: Herr Baasner, was hat Sie bewogen im Jahr 1998 mit dem Verteilen von Lebensmitteln an Bedürftige und Suppenküchen zu beginnen?
Manfred Baasner: 1994 hatte ich einen Arbeitsunfall und wurde dadurch arbeitslos. Ich habe mich vollkommen zurückgezogen und nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilgenommen. Mein Sohn hatte schon seit 1995 Armenspeisungen unterstützt und spannte mich nach seinem Studium dafür ein. Zunächst habe ich bei einer evangelischen Gemeinde hospitiert. Doch ich hatte eine andere Vorstellung von der Hilfe die ich geben wollte. Dann traf ich einen Obdachlosen aus Hamburg in der Innenstadt von Wattenscheid. Dieser erzählte mir von der Hamburger Tafel, die ihm Hilfe und Lebensmittel zur Verfügung gestellt hatte. Für mich war die Idee der Tafel neu und ich setze mich sofort mit Hamburg in Verbindung. Ich wollte den Menschen in christlicher Tradition helfen, ehrenamtlich und unentgeltlich.
Im Jahr 2000 haben Sie die Wattenscheider Tafel gegründet. Wie hoch war die Nachfrage nach einem solchen Angebot und ist der Zulauf eher mehr oder weniger geworden?
Manfred Baasner (71) ist Gründer und Leiter der Wattenscheider Tafel. 2013 erhielt er das Bundesverdienstkreuz für seinen Einsatz gegen Armut, mit einem Schwerpunkt auf Kinderarmut.
1998 haben wir mit der „Speisekammer“ angefangen. Diese ist mit der Arbeit von freiwilligen Helfern schnell gewachsen. Wattenscheid ist eine Kleinstadt, wir hatten schnell einen Überfluss, also haben wir uns auf die Nachbarstädte ausgeweitet. Dann kam die Idee der Tafel, mit der wir Anfangs circa 30 Menschen betreut haben, nach einem Monat waren es schon 300. Und die Zahl stieg rapide. Durch Hilfe von außen und viele Kontakte bekamen wir unser Lager und konnten es mit Freiwilligen so herrichten, wie es heute ist. Jetzt unterstützen wir um die 10.000 Menschen, wenn man den Familienverband mitrechnet. Insgesamt gibt es 400 ehrenamtliche Helfer.
Sie haben in einem anderen Interview gesagt, dass direkte und unkomplizierte Hilfe an der Basis nötig sei. Ist es schwierig eine solche Hilfe zu geben?
Wenn man helfen will, gibt es Schwierigkeiten. Die Menschen vermuten immer einen Hintergedanken, eine schlechte Absicht. Daher war mein Argument: „Wenn sie mir helfen, verdienen sie Geld.“ Schließlich müssen Firmen für die Entsorgung von Lebensmitteln und anderen Waren hohe Preise zahlen, die bei einer Abgabe an uns wegfielen. Ich habe mich bemüht den Kreis an Ansprechpartnern groß zu halten und unsere Idee bekannt zu machen.
Die Wattenscheider Tafel hat sich inzwischen zu einem Sozialkonzern mit einer Sprachschule, Integrations- und Computerkursen entwickelt. Sie tun also viel für die Integration. Wie wichtig ist im Zusammenhang mit Armut dieses Stichwort?
Unser Motto lautet „Leben, Lernen und Arbeiten“. Wir haben immer einen Kreis von 20 bis 25 Zuwanderern im Arbeitsprozess. Sie gehen zur Schule, unsere hat die staatliche Anerkennung. Es ist eine einfache Situation: Man lebt zusammen, lacht zusammen, und dadurch kommt Integration zu Stande. Wir leisten somit gelebte Hilfe zur Selbsthilfe. Abläufe werden gelernt und verinnerlicht und das innerhalb einer Gemeinschaft. Das ist das Beste, um zur Integration zu kommen. Bisher bekommen wir aber keine öffentlichen Fördermittel, um das Angebot ausweiten zu können. Es gibt zu viele Institute die Integrationskurse geben, aber letztlich nicht das anbieten können, was wir anbieten.
Sie haben Kinderarmut durch Ihre Arbeit bundesweit zu einem Thema gemacht und die Kindertafel gegründet. Wie viele Kinder betreut die Kindertafel derzeit?
Es gibt viele Kinder, die ohne Frühstück oder ein Pausenbrot zur Schule gehen. Zuhause wartet dann auch kein Mittagessen. Wir haben Kinder gehabt, die morgens im Dunkeln hungrig vor der Rampe auf Essen gewartet haben. Da war für mich klar, dass etwas passieren muss. Die Kindertafel wurde 2006 gegründet. In Bochum und Wattenscheid betreuen wir insgesamt 64 Kindergärten und 28 Schulen. Es gibt das Angebot des „vitaminreichen Frühstücks“. Wir geben große Mengen an Obst und Gemüse an die Schulen und Kitas ab, die Kinder können sich dann in den Pausen davon nehmen.
Ist Kinderarmut noch immer ein Thema, das in Deutschland zu wenig beachtet wird?
Durch Zufall bin ich an Gisbert Baltes vom WDR 3 in Köln geraten, der sich nach einem Telefonat sofort mit einem Kamerateam auf den Weg zu uns gemacht hat. So wurde das Thema Kinderarmut in den Medien publik. Der ehemalige Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat sich Zeit für ein Gespräch mit mir genommen und hat recht schnell ein Budget für Kindergärten und Schulen bereitgestellt. Ursula von der Leyen hat sich der Kinderarmut angenommen. Wenn unsere Arbeit so wertgeschätzt und wahrgenommen wird, ist das natürlich toll. Doch wie es bei solchen Themen ist, verschwinden sie irgendwann wieder aus den Schlagzeilen. Die Kanzlerin selbst hat auf meine Anfragen nicht reagiert.
Die Wattenscheider Tafel musste Ausgabestellen zusammenlegen. Wie ist die Situation derzeit?
Das war leider eine Notwendigkeit. Wir haben große Sponsoren verloren. Klaus Steilmann beispielsweise ist verstorben. Diese Sponsoren haben dafür gesorgt, dass Anschaffungen oder Reparaturen gemacht werden konnten. Derzeit haben wir von 14 Autos nur noch zehn, weil wir uns diese Reparaturen nicht mehr leisten können. Mit den Wagen müssen wir Anfahrten und Abholungen machen, das war bei so vielen Ausgabestellen nicht mehr zu leisten. Deswegen wurden sie zusammengelegt. Diese Lösung hat bei den Menschen draußen Zustimmung gefunden.
Sie haben Ende 2013 das Bundesverdienstkreuz für Ihre Arbeit bekommen. Was bedeutet diese Auszeichnung für Sie?
Meine Philosophie lautet: Den Menschen dienen für eine bessere Zukunft. Das ist das Wichtigste für mich. Dennoch freue ich mich über die Auszeichnung, denn damit kann ich auf unsere Arbeit aufmerksam machen. Und diese wird wahrgenommen. Der Bundespräsident hat uns in Bochum besucht und mit mir zu Abend gegessen. Wolfgang Thierse ist mit einer Eskorte bei uns vorgefahren, es war fast wie bei einem Staatsempfang. Das war natürlich toll.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass die Menschen ihre Herzen öffnen und wirklich zuhören. Ich will nicht nur Lippenbekenntnisse, ich will Taten sehen. Für die Tafel werden wir bald eine kleine Kapelle eröffnen, in der Menschen jeder Religionszugehörigkeit beten und in sich gehen können. Darauf freue ich mich sehr.
Lesen Sie weitere Artikel zum Thema auch unter: choices.de/thema und engels-kultur.de/thema
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