Als vor kurzem der WDR zum Funkhausgespräch unter dem Thema „Brauchen wir eine andere Demokratie?“ nach Köln lud, sagte Podiumsgast und CDU-Politiker Stephan Eisel voller Überzeugung „Wir leben nun gerade in einem System, wo eben die Wirtschaft nicht alles machen kann, was sie will, sondern es gibt Grenzen dazu“. Das Publikum reagierte mit Gelächter.
Diese Anekdote steht exemplarisch für ein Gefühl, das bei vielen Menschen vorherrscht. Ob Finanzkrise, Panama Papers oder Eurorettungsschirm – die Wirtschaft ist ebenso allgegenwärtig wie komplex und wirkt gefühlt nicht zu Gunsten der Gesellschaft, sondern einiger weniger Privilegierter.
Kurz: Alle sind wütend auf die Finanzelite, aber keiner weiß genau warum, geschweige denn, ob und wie man dieses System ändern könnte. Ulrike Herrmann, ausgebildete Bankkauffrau und Wirtschaftskorrespondentin der taz, schreibt dagegen an. Während sie mit „Hurra, wir dürfen zahlen“ den Selbstbetrug der Mittelschicht analysierte und in „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ möglichst verständlich den Kapitalismus und die Finanzkrise zu erklären versuchte, widmet sie sich in ihrem neuen Buch dem „Irrweg der Mainstream-Ökonomen“.
Zeitblase der Neoklassik
„Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können“ beginnt mit der These, dass dieser Mainstream den Kapitalismus nicht verstanden habe. Als Mainstream-Theoretiker bezeichnet Herrmann die sogenannten Neoklassiker. Der neoklassischen Theorie zufolge besteht die Wirtschaft nur aus Tauschhandel. Monopolbildung von Großkonzernen kommt nicht vor und das gesamtvolkswirtschaftliche Verhalten wird anhand einer idealen, exemplarischen Person prognostiziert.
Die Neoklassik ist aber keine moderne Theorie, sondern eine Theorie aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Heutige Neoklassiker argumentierten demnach in einer Blase, in der die Zeit vor der Industrialisierung stehen geblieben zu sein scheint. Dort existiere ein perfekter, weil sich selbst regulierender Markt der mit mathematischen Modellen berechenbar scheint, die aber weder Finanzkrisen erklären noch Fragen nach der Funktionsweise des Geldes oder dem Ursprung des Wirtschaftswachstums beantworten können.
Die Fehlannahmen der Neoklassik wirken aber nicht nur in der akademischen Disziplin. Ihre Theoretiker arbeiten auch als Berater in Politik und Wirtschaft, wirken so in der Praxis auf die Gesellschaft zurück. Unser Finanzsystem folgt demnach nicht unumstößlichen Naturgesetzen. Es resultiert aus politischen Entscheidungen zugunsten der Neoklassik, die als monopolistische Wirtschaftslehre ein System zementiert, zu dem es angeblich keine Alternative gibt.
250 Jahre Theorie auf 200 Seiten
An dieser Stelle kommen Adam Smith, Karl Marx und John Maynard Keynes ins Spiel, deren Fragestellungen und die daraus resultierenden Theorien eng mit realen Ereignissen und Beobachtungen ihrer Entstehungszeit verbunden sind. Die Autorin führt uns anhand dessen auf kompakten 200 Seiten durch etwas mehr als zwei Jahrhunderte Geschichte der Wirtschaftstheorie.
Was trocken klingt ist ein spannender und vor allem in weiten Teilen verständlicher Abriss der modernen Ökonomik. Beginnend bei Adam Smith, dem ersten eigentlichen Wirtschaftstheoretiker, über Marx, der als erster die prozesshafte Dynamik des Kapitalismus noch vor dessen vollständiger Entfaltung beschrieb bis hin zu Keynes, der die erste allgemeine, makroökonomische Theorie vorlegte und erkannte, dass der Kapitalismus durch Spekulationen getrieben wird und Sparen sich nur aus betriebs-, nicht aber aus volkswirtschaftlicher Perspektive lohnt.
Anfangs wirkt es irritierend, wenn nicht nur biografische Eckdaten genannt werden, sondern die Autorin Details aus dem Privatleben der Theoretiker einfließen lässt. Diese sind jedoch wichtig, um deren Denkweise im historischen Kontext zu verstehen. Außerdem helfen diese Details, sich bestimmte Zusammenhänge besser einzuprägen. Neben der Entwicklungsgeschichte der Theorien und wichtigsten Thesen fasst Herrmann die Hauptwerke von Smith, Marx und Keynes zusammen und geht auch auf die Rezeption dieser Werke durch Zeitgenossen wie aus heutiger Perspektive ein.
Von wegen alternativlos
Im Abschlusskapitel schlägt sie eine Brücke zu den Mankos unseres heutigen Wirtschaftssystems, in dem sie die Fehlschlüsse der Neoklassiker bezüglich Preis- und Lohnbildung, Handel oder Eurorettung zusammenfasst. Sie fordert die Wirtschaftswissenschaft dazu auf, Smith, Marx und Keynes verstärkt und vor allem nicht mehr nur verkürzt an den Universitäten zu lehren, dadurch das herrschende Paradigma der neoklassisch dominierten Lehre aufzuknacken und so zukünftige, alternative Theorieansätze zu ermöglichen. Als dynamisches und widersprüchliches System begriffen, erfordere der Kapitalismus nicht die eine „wahre“ Theorie, sondern verschiedene Erklärungsansätze.
Nach der Lektüre von „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung“ hat man nicht alle Begriffe unseres Wirtschafts- und Finanzsystems verstanden. Herrmann gelingt es aber, das Interesse für Ökonomie und die ihr zugrunde liegenden Denkmodelle und Theorien zu wecken und vermeintlich unumstößliche Marktgesetze zu hinterfragen. Das liegt auch an ihrer klaren, schnörkellosen Sprache. Dass sie Geschichte mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsgeschichte und Philosophie studiert hat, vermittelt sich durch ihr breites Wissen der Materie, nicht durch einen akademischen Duktus.
Durch ihre Darstellung der historischen Kontexte wird deutlich, dass der Neoliberalismus mit all seinen Symptomen kein Naturgesetz ist, sondern Folge politischer Entscheidungen, die auch wieder rückgängig gemacht werden könnten – wenn es den politischen Willen dazu gäbe. Um diesen in einer Demokratie zu artikulieren, braucht es aber BürgerInnen, die das herrschende Finanz- und Wirtschaftssystem überhaupt verstehen. Der Soziologe Pierre Bourdieu prägte einst die Forderung nach der „ökonomischen Alphabetisierung“ der Massen. Ulrike Herrmanns neustes Buch und ihre publizistische Arbeit insgesamt leisten dazu einen wichtigen Beitrag.
Ulrike Herrmann: Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können | Westend | 288 S. | 18 €
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Zitat geändert
Sehr geehrter Stephan Eisel,
vielen Dank für Ihren Hinweis. Wir haben noch einmal in die Sendung hinein gehört und das Zitat zu Beginn des Textes entsprechend wörtlich aus diesem Mitschnitt übernommen. Nachzuhören bei Minute 20.
Mit freundlichen Grüßen,
Redaktion trailer ruhr
Falsch zitiert
Sehr geehrte Frau Braun,
wenn man jemanden zitiert, sollte man - auch bei unterschiedlicher Meinung - seriös bleiben. Das ist Ihnen im Blick auf mich nicht gelungen. Ich habe in den WDR-Funkhaus-Gesprächen dargelegt, dass in der bundesdeutschen Demokratie (im Unterschied zum per definitionem ungezügelten Kapitalismus) der Wirtschaft durch demokratische Institutionen Regeln vorgegeben werden (z. B. Kartellrecht), diese immer wieder angepasst werden müssen und dieses durch die internationale Dimension wirtschaftlichen Handelns schwieriger geworden ist.
Wer will, kanns gerne nachhören:
http://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-funkhausgespaeche/audio-brauchen-wir-eine-andere-demokratie-100.html
Es ist schade, dass Sie diese differenzierte Argumentation zugunsten eines billigen Klischees einfach ausblenden.
Mit freundlichen Grüßen
Stephan Eisel
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