Das Leid einer Personengruppe gegen das einer anderen auszuspielen, ist seit anderthalb Jahren zu einer Art rhetorischer Mode geworden. Nach Silvester 2015 schrieben sich zum Beispiel Gruppierungen mit zutiefst konservativen Vorstellungen von Geschlechterrollen plötzlich Frauenrechte auf die nationalistische Flagge, weil sich dadurch leicht Geflüchtete diskreditieren ließen. Andere erwidern auf jede Äußerung, die um Verständnis für die Lage von Geflüchteten wirbt, es solle sich doch endlich und zuerst mal um die Bedürftigen, Armen, Obdachlosen im eigenen Land gekümmert werden.
Diese Haltung birgt zwei Denkfehler. Erstens interessieren sich solche, die so argumentieren, oft erst dann für Bedürftige, Arme oder Obdachlose, wenn es ihnen zur Bestätigung ihrer Ressentiments nützlich scheint. Zweitens gibt es bereits Engagierte, die sich für Obdachlose einsetzen, über deren Situation aufklären wollen und ihnen eine Stimme zu geben versuchen – ohne andere Personengruppen dafür zu instrumentalisieren.
Neben zahlreichen Ehrenamtlichen oder SozialarbeiterInnen wenden sich auch Filmschaffende der Region der Thematik zu. Aktuell ist in einigen Ruhrgebietskinos die Doku „Brüchige Biografien“ zu sehen, die Alltag und Schicksal von Bochumer „bodo“-VerkäuferiInnen zeigt.
Mit „Obdachlos – 4 Tage ein ‚Penner‘“ kommt nun der filmische Selbstversuch von Hüdaverdi Güngör dazu. Er ist durch die Straßen des winterlichen Kölns gezogen, lediglich bepackt mit warmer Kleidung, Schlafsack, Isomatte und den üblichen Vorurteilen, die auch die meisten von uns gegenüber Obdachlosen verinnerlicht haben.
Der Trailer lässt vermuten, dass der Film zwischen Cinéma vérité und Direct cinema angesiedelt ist: Mal ist die Kamera bloßes Instrument der Beobachtung, sammelt Momentaufnahmen, hält die Interviews mit Obdachlosen fest. Die öffentliche Interview-Situation mit Kamera provoziert aber auch Passanten dazu, gängige Vorurteile wie „Dann geh doch arbeiten!“ ungefragt dazwischenzurufen und offenbart so, wie ein großer Teil der Gesellschaft über Obdachlose denkt.
Güngör möchte dadurch nicht nur individuelle Schicksale oder den Alltag von Obdachlosen aufzeigen, sondern die ZuschauerInnen dazu bewegen, ihre eigenen stereotypen Vorstellungen über das Leben auf der Straße und die Ursachen dafür zu hinterfragen. Er selbst scheint in den vier Tagen auf der Straße selbst an seine physischen und psychischen Grenzen gelangt zu sein und wird bei der Premiere des Films über diese Erfahrung berichten.
Premiere: „Obdachlos – 4 Tage ein ‚Penner‘“ in Anwesenheit des Regisseur Hüdaverdi Güngör | 07.01. 18.30 Uhr | Kulturzentrum August Everding, Blumenstraße 12, Bottrop | www.facebook.com/events/344864845893177/ | Eintritt frei
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