Erlebt hat Robert Lucas Sanatanas schon viel: Als Literaturveranstalter hat er es geschafft, das Buch „Berlin, Alexanderplatz“ von Alfred Döblin komplett vorlesen zu lassen. Dazu organisierte er 26 Darsteller aus allen sozialen Schichten, die Lesung dauerte fast 30 Tage. Dass der Text nicht nur von Profis gelesen werden sollte, lag Sanatanas besonders am Herzen. Denn er selbst weiß, dass es in einer Gesellschaft nicht alle Menschen gleich gut haben. In seinem Buch „Obdachlos. 25 Porträts vom Leben auf der Straße“ lässt er diejenigen zu Wort kommen, die – wie er selbst sagt – „draußen leben“. Er selbst habe 16 Jahre lang auf der Straße gelebt. „Meine persönliche Biographie möchte ich aber im Hintergrund halten“, betont er bei der Lesung, die das Medienforum des Bistums Essen in Kooperation mit der Caritas veranstaltet.
Er kritisiert, dass das Thema Obdachlosigkeit immer noch nicht richtig verstanden sei. „Mir ist aufgefallen, dass es einen massiven Mangel an Sachwissen gibt. Weder die Sozialwissenschaften noch die Psychologie haben Antworten auf das Thema. Die habe ich selbst nicht, deshalb greife ich bei meinen Porträts zur Literatur. Wichtig war mir auch, nicht zu werten“, erklärt der Autor. „Ich habe versucht, ein fassbares Bild von etwas zu schaffen, was in der Vielschichtigkeit gar nicht fassbar ist.“
Die Menschen, die Sanatanas bei seiner Recherche getroffen hat, sind ganz unterschiedlich: Thomas, der seit 2008 auf der Straße lebt und regelmäßig zu Rita, einer Prostituierten, die selbst einmal obdachlos war, geht. Sein Motto: „Ich bin froh, draußen zu sein, drinnen bist du Emotionen ausgesetzt. Draußen Informationen.“ Dann ist da noch Dark Vader, ein eher sanftmütiger Typ, der sich am Reichtum anderer bereichert. Für ihn sei das Klauen wie ein plötzlicher Heißhunger, mit dem er eine Art Gerechtigkeit herstellen wolle.
Sanatanas erzählt aber auch von Yelly, die sich manchmal noch wie ein Kind fühlt und mit ihren Filzfiguren auf der Straße lebt. Bei einem Unfall auf einem Schulausflug fiel sie vor ein Fahrzeug der Straßenreinigung und verlor ein Bein. Danach wurde sie zur Außenseiterin. „Für sie macht es einen großen Unterschied, ob sie geschubst wurde oder gefallen sei. Denn sie möchte sich nicht als Gefallene wissen“, liest Sanatanas. Dann erzählt er noch die Geschichte von Friedrich, der seit der Trennung von seiner großen Liebe Eleonore viel zu oft in billigen Kneipen herumgehangen hat.
Die Sprache in Sanatanas Porträts ist mal leise, sentimental, und mal sehr direkt. Aber immer hat man als ZuhörerIn das Gefühl, dass sie treffend ist. Unterstützt werden seine Porträts von philosophischen oder spirituellen Passagen, etwa wenn er Freud zitiert mit den Worten „es bleibt immer eine Sehnsucht bestehen, auch kultivierten Bereichen zu entfliehen“. Dies sei einer der Gründe, warum manche Menschen auf der Straße leben.
Bei der Diskussion im Anschluss an die Lesung kommt die Frage auf, wie man obdachlose Menschen am besten unterstützen könne. Auch wenn Sanatanas keine direkte Antwort hat, macht er deutlich: „Wenn ich drinnen bin und will eine Verständigung mit draußen, muss ich das Fenster aufmachen.“ Verständigung sei einer der Wege, die sicherlich richtig seien, denn dann könne man den kleinsten gemeinsamen Nenner finden.
Robert Lucas Sanatanas: Obdachlos. Porträts vom Leben auf der Straße | Herder | 208 S. | 24,99 €
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