Eisiger Wind frisst sich durch jede Naht des Schlafsacks. Die Zähne sind belegt, der Magen leer. Betrunkene zerfetzen brüllend den Schlaf von Hüdaverdi Güngör. Vier Tage lang tauscht der 21-Jährige sein warmes Bett in Bottrop mit der kalten Realität des Lebens auf den Straßen Kölns. Für einen Dokumentarfilm wagt Güngör einen Selbstversuch, der ihn tief in die menschlichen Abgründe zwischen den Straßenschluchten blicken lässt.
„Ich will mit dem Film niemanden wachrütteln“, sagt Güngör, bevor er den Film startet. „Ich will das Leben auf der Straße nachvollziehbar machen.“ Deshalb hat er mit der Uraufführung seines bereits seit einigen Monaten abgeschlossenen Projekts gewartet, bis auch seinen Zuschauern kalt genug ist. Viele von ihnen rutschten selbst über die vereisten Bürgersteige, um in den Vorführungssaal zu gelangen. Durchgefroren lässt sich die Kälte der Straße besser nachfühlen, findet Güngör.
Das Projekt wurde im Vorfeld sorgfältig geplant. Göngör sprach mit Kameraleuten, Tontechnikern, suchte Unterstützung bei Freunden und Familie. Im Winter 2015 ist es so weit: Der erste Frost und klirrende Kälte verwandeln den Atem der Menschen in den Fußgängerzonen in weißen Dampf. Die Hände fest in die wärmenden Taschen gedrückt und mit vollen Einkaufstaschen bepackt, hasten sie an Güngör und seinem neuen Bekannten Josef vorbei. Dann und wann wirft jemand klimpernd ein paar Münzen in den Kaffeebecher, den sie vor ihrem dürftigen Lager aus Plastiktüten und Schlafsäcken aufgestellt haben.
Josefs Frau verlor ihr Kind, nahm sich danach selbst das Leben. Eine Welt, die gerade noch völlig geordnet war, brach abrupt zusammen. Schließlich verlor er seine Arbeit, seine Wohnung, erzählt er Güngör vor laufender Kamera. Bei einem Verkehrsunfall tötete Josef zwei Menschen. Gerade wurde er aus dem Gefängnis entlassen. Bald muss er vielleicht wieder rein, weil er beim Schwarzfahren erwischt wurde und die Strafe nicht zahlen kann.
Sein Vater sei Millionär, erzählt Josef. Mit einer großen Firma in Köln. In derselben Stadt schläft Josef auf dem kalten Boden der Realität. In Güngörs Film wird er weder zum tragischen Helden noch zum Verbrecher. Er wird vom unsichtbaren Bettler an der Ecke zum Menschen. Mit seiner eigenen Geschichte, mit Sorgen und mit Knochen, die nach einer Nacht auf dem Lüftungsschacht schmerzen.
Am zweiten Tag trifft Güngör auf Eckbert. Seine Hände sind mit tiefen Schrammen übersät. Draußen heile eine Wunde langsamer, erklärt Eckbert. Sachlich schildert er, was die Straße fordere. Vor einiger Zeit traten ihm Betrunkene gegen den Kopf. Einfach zum Spaß. Oder zum Zeitvertreib. Bis sein Schädel brach. Doch Eckbart hegt keinen Groll: „Die waren betrunken. Das waren einfach Idioten“. Für ihn gibt es kein „Die“ und kein „Wir“. Seine Welt spaltet sich nicht in Obdachlose und Menschen mit einem Zuhause. Er betrachtet jeden Menschen einzeln. Bevor er auf der Straße lebte, führte er in den Niederlanden ein kleines Unternehmen mit 30 Mitarbeitern. Dann trennte sich seine Freundin – und er verlor den Boden unter den Füßen. Fuhr herum, bis sein Auto in die Knie ging. Zu Fuß lief er weiter, von Wiesbaden bis nach Köln, erzählt er.
Mit stoischer Ruhe bittet Eckbert eine Gruppe rumpöbelnder Jugendlicher, weiterzugehen. Seine Besonnenheit überrascht – und zerstört das Klischee des leidenden Bedürftigen. „Glück ist ein großes Wort“, sagt Eckbert auf Güngörs Nachfrage. „Aber ich bin nicht unglücklich.“ Eckbert ist kein Opfer, er ist der stille Beobachter der Stadt.
Güngörs Film wertet nicht, er spürt nach. Jedes Mal, wenn er sich daneben setzt, setzt er sich auch auseinander. Nach großem Beifall für seinen Film dankte Güngör gerührt seinem Team, seiner Familie und seinen Freunden. Die im Film auch zu Wort gekommenen ehrenamtlichen Obachlosenhelfer holte Güngör auf die Bühne. Interessierten Zuhörern gaben sie weitere Einblicke in die Probleme der Obdachlosen und die Hilfe, die sie ihnen anbieten. Güngörs Selbstversuch lässt seine Zuschauer die Kälte der Nächte spüren und gibt zugleich den namenlosen Bettlern unserer Städte ein Gesicht.
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