Es ist kein Geheimnis, diese Krise stellt uns vor enorme Herausforderungen und konfrontiert uns unmittelbar damit, dass selbstverständlich Geglaubtes zur entfernten Utopie wird. Doch diese Krise lässt uns vielleicht auch erkennen, welchen wirklichen Wert unser Hunger nach ständigem Konsum hat und ob manche Dinge, wie beispielsweise unser unstillbar gewordener Durst nach pausenloser Mobilität, nicht auch in Teilen verzichtbar sein können und der Verzicht nicht gleichzeitig einen Verzicht auf Lebensqualität bedeuten muss.
Gleichermaßen führt uns der Alltag in der Pandemie aber auch vor Augen, was uns wirklich fehlt und uns als Menschen ausmacht. So zeigt sich doch gerade jetzt, wo wir Verzicht üben müssen, wie wichtig sozialer und kultureller Austausch ist und welche große Bedeutung dabei Kunst und Kultur für eine demokratische und liberale Gesellschaft haben. Kunst und Kultur, die seit dem Lockdown so drastisch zurückgefahren ist und im Moment fast nur im virtuellen Raum existiert, obwohl sie in aller Regel einen Ort braucht, an dem sie stattfinden kann: Einen Ort, an dem sich Menschen versammeln können, um über Kultur ins Gespräch und in den Austausch zu kommen. Zweifelsohne kommt dabei den musealen Orten, den Theatern, Opernhäusern und vielen anderen eine enorme Bedeutung zu.
Aber auch wir als kulturfördernde Kino- und Kulturzeitschrift bilden so einen Ort. Von der Leidenschaft angetrieben, begleiten wir seit Jahren die Kultur- und Kinoszene in der Region und halten vielleicht insbesondere in diesen Zeiten noch einmal einen Ort am Leben, an dem Kunst und Kultur noch sein kann. Im besonderen Fokus steht dabei auch immer das Kino als ein Ort des sozialen Austauschs. Denn auch wenn die aktuelle Krise den Trend des Online-Streamings weiter verstärkt und dabei Netflix & Co immer neue Rekorde verzeichnen und den Weg in die virtuelle Mainstream-Monotonie der Datenkraken weiter ausbauen, können sie das Kino nur schwer ersetzen.
Was ist es für eine verstaubt romantische Vorstellung, dass sich unterschiedlichste Menschen an einem Ort versammeln, um gemeinsam einen Film in einem Kinosaal zu erleben und diesen als kollektives Ereignis zu erfahren, der nach dem Film in ein Gespräch mündet? In diesen Tagen zeigt sich, dass die Filmkunst das Kino genauso benötigt, wie die Bildende Kunst auf den musealen Ausstellungsort angewiesen ist. Denn ähnlich wie das Museum, ist auch Kino genau so ein Ort, an dem sich Menschen treffen, über Kunst und Kultur sprechen und in den Austausch miteinander treten. Und ähnlich wie das Museum, leistet auch das Kino wertvolle Kurationsarbeit und nimmt damit einen Bildungsauftrag wahr, der neue Räume eröffnet, die für eine liberale Gesellschaft so wichtig sind.
Aus diesem Grund ist unserer unter normalen Umständen monatlich kuratierter Veranstaltungs- und Kino-Kalender elementarer Bestandteil unserer Kinorubrik. Darin stellen wir Ihnen genau das Engagement der vielen Kinos vor, die Kino zu einem Ort des Austauschs machen und die ganze Vielfalt des bewegten Bildes darstellen. Hier präsentieren wir Ihnen den abseitigen Dokumentar- oder Experimentalfilm, bei dem die Filmemacher ihr Werk vorstellen und mit dem Publikum ins Gespräch über die Dinge kommen, genauso wie den Stummfilm in analoger Projektion mit musikalischer Live-Begleitung oder das kuratierte Kurzfilmfestival mit Filmgesprächen und Einführungen. Es sind diese besonderen Formen von Kino, die nur an einem gemeinsamen kulturellen Ort stattfinden können und sich vielleicht mit dem aus der Bildenden Kunst entlehnten Begriff des Expanded Cinema umschreiben lassen. Das Expanded Cinema, das die Formen von Kino jenseits der konventionellen Filmstarts weiterdenkt und alternativen Formaten einen Raum gibt, der zum Diskurs einlädt.
Doch was kann Kinoarbeit in Zeiten von Corona und Abstandsregeln noch leisten, wenn der physische Ort des Kinos ausfällt? Es ist fast ein wenig ironisch, dass ausgerechnet ein altmodischer US-amerikanischer Kinotrend aus den 1950er Jahren in diesen Tagen seine Renaissance feiert. Das Autokino. Ob in den Ruhrgebietsstädten, in Köln, Bonn oder Wuppertal – in vielen unserer Städte sind temporäre Autokinos aus dem Boden gestampft worden, die den Durst nach Filmkunst auf der großen Leinwand etwas zu stillen versuchen und gleichzeitig den Kontaktabstand gewährleisten. Expanded Cinema also, im fast wortwörtlichen Sinne – das ist ein schöner Trend, denn er zeigt, dass das Interesse an Kino trotz des Corona-Streaming-Überangebots immer noch ungebrochen ist.
Und auch die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen geben nicht klein bei, sondern wagen den Sprung in das Online-Format und veranstalten ihre mittlerweile 66. Ausgabe das erste Mal ausschließlich online. Festivalleiter Lars Henrik Gass gibt zu, dass ihn der Gedanke einer Online-Auswertung schon lange umtreibt, doch in dieser Form ist es das erste Mal. Dabei steht bei den Kurzfilmtagen vor allem der Wettbewerb im Fokus. Über eine Online-Akkreditierung kann man virtuell zum Festivalbesucher werden und sich über 350 Filme ansehen, die „in Oberhausen“ teilweise ihre Weltpremiere feiern.
Entgegen dem Trend der ständigen Verfügbarkeit werden die Filme jedoch ausschließlich in einem 48-stündigen Zeitfenster online verfügbar sein. Das soll die Wertigkeit der Festivalbeiträge unterstreichen, die eben „nur temporär und exklusiv während der Kurzfilmtage zu sehen sein werden“, so Gass. Auch wenn es Online-Einführungen der Filmemacher und Kuratoren zu den Festivalbeiträgen und Programmen geben wird, bleibt dennoch vieles auf der Strecke. Es ist der Austausch und die direkte Interaktion über das Medium Film, die eben nur das Kino als ein Ort der Kultur und des Zusammenkommens leisten kann. Hoffen wir also, dass diese Krise unsere geliebten Kinos und Filmkunsttheater nicht gänzlich in den Ruin treibt, denn wenn diese Orte verloren gehen, dann vermutlich unwiederbringlich.
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