trailer: Herr Simons, „Der unsichtbare Mann“ fällt heute und morgen in den Kammerspielen aus – das unsichtbare Virus reist weiter. Wie leitet man ein geschlossenes Schauspielhaus in Bochum?
Johan Simons: Wir versuchen natürlich Pläne zu entwickeln, aber wir wissen noch immer nicht, wann wir wieder öffnen können. Das hängt natürlich auch von der Stadt ab, vom Land, der Politik. Es ist eine schwierige Situation und es ist eine Situation, die ich so noch nie erlebt habe. Wir überlegen, wie wir im Mai weitermachen können, und wenn es im Mai noch nicht weitergeht, dann denken wir über den Juni nach. Oder über den August, September? Wir entwickeln Alternativen und schieben die Projekte hin und her. Das ist im Moment ein Großteil meines Jobs. Und ich versuche, mich gesund zu halten. Das ist auch wichtig.
Wie kann man in so kontaktlosen Zeiten die Bevölkerung überhaupt mit Kunst und Kultur versorgen? Ist die letzte Ausfahrt die virtuelle Welt?
Ja, selbstverständlich ist das die virtuelle Welt. Wir möchten ja auch nicht weg vom Fenster sein. Der WDR hat unsere Produktion „Judas“ aufgenommen und stellt sie online zur Verfügung, unser Ensemble produziert zu Hause Videos, die wir ins Netz stellen, etwa eine Lesung aus „Hamlet“ von Sandra Hüller. Aber diese Reihe „Schauspielhaus #Homestories“ hat nicht viel mit der Livesituation zu tun, die ein Theater ausmacht. Das Bochumer Schauspielhaus hat drei Bühnen und dort gehen wir alle hin, das Publikum und wir. Wir zeigen etwas und das Publikum applaudiert, gibt Standing Ovations oder ruft auch „Buh“. Das alles ist im Moment nicht möglich. Unsere Kommunikation über das Netz machen wir auch, weil wir das Publikum vermissen. Und wir vermissen auch unser Haus. Wir halten untereinander den Kontakt mit Videokonferenzen. Heute Nachmittag habe ich wieder so eine Video-Sitzung mit der Dramaturgie, bei der wir gemeinsam überlegen, wie wir reagieren, wenn es wieder losgeht, und wie wir weiterhin im Netz auf die Situation reagieren.
Finden denn vielleicht Proben statt – mit Abstand?
Nein, nein, nein. Wir dürfen kein Risiko in Kauf nehmen, dass das Virus weiter verbreitet wird. Das wäre unverantwortlich.
Wird das Online-Angebot denn angenommen? Wollen die Bürger das überhaupt?
Manche Videos erreichen mehrere 10.000 Menschen. Das ist richtig viel. Und dennoch kann man das Online-Angebot mit einem Theaterabend nicht vergleichen. Weil es nie im selben Raum mit dem Publikum stattfinden kann. Wir hoffen, dass unsere Zuschauer uns jetzt auch in die virtuelle Welt folgen, aber sie ersetzt keinen Theaterbesuch. Die Situation ist insgesamt natürlich ärgerlich: 20 Jahre lang war das Schauspielhaus Bochum nicht zum Theatertreffen eingeladen. Jetzt haben wir es mit „Hamlet“ geschafft und können das Stück in Berlin nicht aufführen, weil das Theatertreffen abgesagt werden musste. Das ist natürlich gemein. Aber das ZDF hat unseren „Hamlet“ aufwendig aufgenommen, kurz bevor wir das Theater schließen mussten. Die Aufzeichnung wird am 3. Mai um 20.15 Uhr zum ersten Mal auf 3sat gezeigt. Das ist natürlich eine schöne Sache, aber alles kein Theater-Ersatz.
Wie lange halten wir das noch durch ohne das Lebensmittel Kunst und Kultur?
Das kann niemand sagen. Die ganze Gesellschaft fragt sich das. Wie lange halten wir das aus? Ich hoffe natürlich, dass wir spätestens in der neuen Saison wieder anfangen können. Aber wir sind nicht die Einzigen, die betroffen sind. Die ganze Gesellschaft ist betroffen. Natürlich sind wir kein überlebenswichtiger Teil der Gesellschaft wie Ärzte oder die Müllabfuhr, aber wir sind ein essentieller Teil von ihr. Ich will versuchen, positiv zu bleiben, aber eigentlich ist vieles gerade schrecklich.
Halten denn die Zuschauer zu ihrer renommierten Bochumer Bühne?
Ja. Im ersten Jahr haben wir zwar auch viel Kritik bekommen, aber wir hatten in den bisherigen zwei Jahren einige sehr schöne Inszenierungen. Besonders das Programm im Großen Haus ist in der Stadt gut angekommen: „Hamlet“ ist immer ausverkauft, bei „Herbert“ war die Premiere nach zehn Minuten ausverkauft. Wir sind wirklich wie eine Rakete in die Höhe gestiegen. Und dann kam die Corona-Krise. Das Schöne an dieser Stadt ist ihr Stolz aufs Theater. Es gibt zwar auch Zuschauer, die sich abwenden, weil sie von früher ein anderes Programm gewöhnt sind, aber die meisten freuen sich über das, was im Schauspielhaus passiert. Und Bochum ist stolz auf sein tolles Ensemble!
Keine Gefahr für die ungeliebten freiwilligen Leistungen?
Das ist eine sehr provokante Frage. Aber die Antwort ist ganz klar nein. Diese freiwillige Leistung ist gar keine ungeliebte freiwillige Leistung. Nicht umsonst steht dieses Gebäude mitten in der Stadt, es ist das Herz der Bochumer Kulturszene – und strahlt weit über diese hinaus.
Und wer kriegt das Toilettenpapier aus den geschlossenen Toiletten der Häuser?
Das bleibt natürlich da. Für die Zeit, wenn wir endlich wieder anfangen können zu spielen.
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