Was tut man mit einem Textgebirge der Elfriede Jelinek? Man pinselt es an die Rückwand des Oberhausener Theaters, wo Peter Carp die „Winterreise“ der österreichischen Nobelpreisträgerin inszeniert, in Szene setzt, in Szenen unterbringt, die nie vorhanden sind, wenn man sich das Textbuch vornimmt. Was aussieht wie ein Bauernschwank, wird zur Metapher einer schonungslosen Aufarbeitung dieser Wahnsinnsfrau von sich selbst, angehängt an den gleichnamigen Liederzyklus von Franz Schubert und Wilhelm Müller.
Vergänglichkeit trifft selten das Biografische, aber schnell die im Text implementierten Katastrophen wie Hypo-Bank oder die merkwürdige Berichterstattung im Fall Natascha Kampusch. Besser ist es, wenn Jelinek allgemein mit dem Leben da draußen abrechnet. „Das, was mich seit meiner Kindheit gequält hat, kommt jetzt an. Es ist lang gewandert, und nun ist es bei mir angekommen“, heißt es da, und es sind in der Hauptsache ihre Eltern, die da ins Licht gezerrt werden.
Carp inszeniert in einem aufwändigen Bühnenbild von Kaspar Zwimpfer. Der Blick fällt anfangs auf eine rohe Almhütte, vor der das Jelinek-Alter Ego seinen ersten Megamonolog erhält. Dann wird die Bude wie eine gigantische Puppenstube aufgezogen, Seitenwände herbeigerollt, fertig sind die Stadl-Innereien mit Tisch und Bänken, mit Badewannentränke und grauen Felsbrocken, eine Treppe führt in die Gästezimmer. Hier findet die Party zur Hochzeit statt, die dann doch wohl nicht stattfindet, weil der Bräutigam stiften geht, bevor die Ehe gestiftet wurde. Am nächsten Morgen wird die Wirtin Frau Jelinek mit schmuckloser Schürze frische Semmeln und den ersten Schnaps kredenzen. Schuberts Zyklus ist kaum zu erkennen, zwei Lieder erklingen vom Band, dazu ab und an vereinzelte Hörnerrufe hinter den Bergen, das war es auch schon.
Ansonsten ist es auffallend still im Theater. Jelineks Texten ist nicht leicht zu folgen, doch sie sind es wert, besonders wenn Anja Schweitzer als zweites Jelinek-Alter Ego über die Mutter monologisiert oder Hartmut Stanke als der an Alzheimer erkrankte Vater auftritt und sich vehement gegen den Realitätsverlust stemmt. Eine gelungene Inszenierung des Negativen, eine tolle Ensembleleistung, ein Abend voller tiefer Trauer – mit Hütten-Gaudi.
„Winterreise“ I Fr 27.1., 19.30 Uhr I Theater Oberhausen I 0208 857 81 84
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Karriere eines Massenmörders
Premiere am Theater Oberhausen
Der Held im Schwarm
„Swimmy“ am Theater Oberhausen – Prolog 10/24
Wüste des Vergessens
„Utopia“ am Theater Oberhausen – Prolog 09/24
„Es ist ein Weg, Menschen ans Theater zu binden“
Regisseurin Anne Verena Freybott über „Der Revisor kommt nach O.“ am Theater Oberhausen – Premiere 06/24
„Zero Waste“ am Theater
Das Theater Oberhausen nimmt teil am Projekt Greenstage – Theater in NRW 06/24
Von der Straße ins Theater
„Multiversum“ am Theater Oberhausen – Prolog 04/24
Mackie im Rap-Gewand
„MC Messer“ am Theater Oberhausen – Tanz an der Ruhr 04/24
Vom Elvis zum Cowgirl
„The Legend of Georgia McBride“ am Theater Oberhausen – Prolog 02/24
„Die Geschichte wurde lange totgeschwiegen“
Ebru Tartıcı Borchers inszeniert „Serenade für Nadja“ am Theater Oberhausen – Premiere 01/24
Multiple Zukünfte, sinnlos zerstört
„Die Brücke von Mostar“ am Theater Oberhausen – Prolog 09/23
Antworten, die verschwiegen werden
„And now Hanau“ in einem Oberhausener Ratssaal – Prolog 09/23
Folgerichtiger Schritt
Urban Arts am Theater Oberhausen – Theater in NRW 08/23
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 01/25
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
Trance durch Kunst
Die Reihe Rausch 2 in Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 11/23
Brecht im Discounter
„Der gute Mensch von Sezuan“ am Grillo-Theater in Essen – Theater Ruhr 10/23
Bretter der Kulturindustrie
„Das Kapital: Das Musical“ im Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 10/23
Siehst du, das ist das Leben
„Der erste fiese Typ“ in Bochum – Theater Ruhr 06/23
Der gefährliche Riss in der Psyche
„Die tonight, live forever oder das Prinzip Nosferatu“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 04/22
Unberührbare Souveränität
Frank Wedekinds „Lulu“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 03/20
Totenmesse fürs Malochertum
„After Work“ in den Bochumer Kammerspielen – Theater Ruhr 02/20
Gespenstisches Raunen
Die Performance „Geister“ am Schauspielhaus Bochum – Theater Ruhr 02/20
Drei wilde C´s im Schnee
„After Midnight“ im Essener Grillo – Theater Ruhr 02/20
Von Büchern überschüttet
„Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ in Mülheim – Theater Ruhr 02/20
Tragödie mit Diskokugel
Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ in Oberhausen – Theater Ruhr 01/20