Stecken wir immer noch in Platons Höhle oder generieren wir in Zukunft unsere Realität selbst? Das Medienkunst-Kollektiv sputnic (Malte Jehmlich, Nicolai Skopalik und Nils Voges) inszeniert im Dortmunder Megastore Stanislaw Lems „Der Futurologische Kongress" als „Live-Animation-Cinema“. Dafür haben sie dem Roman eine eigene Wendung gegeben, eine künstliche Intelligenz steuert die virtuelle Realität, in die der berühmte Raumfahrer Ijon Tichy stürzt und die er nur mit Mühe verlassen kann – in eine weitere Ebene. Die Bühne scheint ein hochtechnisches Laboratorium zu sein. Lichter blinken, hier wird das Wesen der Realität programmiert, die Strichmännchenwelt auf der Videoleinwand ist ein scharfer Kontrast.
Ein Vorteil der Versuchsanordnung von sputnic, die der eifrige Dortmunder Besucher schon bei Houellebecqs „Die Möglichkeit einer Insel“ vor zwei Jahren bestaunen konnte, sind die Möglichkeiten, die verschiedenen Realitäten auf unterschiedlichen Bildebenen zu verteilen. Notwendig ist dafür natürlich das Multitasking-Potential der Schauspieler. Auf Folien findet nämlich das eigentliche Wunder der Visualisierung statt. Am kreisrunden Labortisch bewegen kleine Kunststoff-Schiebestreifen darauf die Personen, kleine Videokameras liefern Bilder für die große Leinwand im Hintergrund. Und wenn es darum geht, dass Tichy gerade statt im Hilton in einer virtuellen Realität erwacht, wenn er sich darüber beschweren will, dann wandern die Schauspieler auch schon mal weg vom Labortisch in die Megastore-Ebene und machen „normales“ Theater – nun ja, so ganz normal ist es eigentlich nie: T. D. Finck von Finckenstein erzeugt live auf der Bühne den Soundtrack, Uwe Schmieder ist Professor Trottelreiner auf Speed, Frank Genser (er ist Tichy) ist auch schon mal eine gelbe Ratte und Friederike Tiefenbacher und Marlena Keil (sie ist ein virtueller Tichy) wechseln Klamotten und Rollen im Minutentakt, um dann wieder schnell ein Schiebestreifchen zu bewegen, und auf den Knopf für Kamera und Mikro zu drücken, und dabei noch die Puppenbühnen unter den Labortischen zu beleuchten.
„Der Futurologische Kongress“ | R: Nils Voges | Fr 7.7. 19.30 Uhr | Theater Dortmund Megastore | 0231 502 72 22
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