Endlich spricht der neue Mensch die ersten Worte aus: „Ich will Bier!“ Entsetzen bei Professor Filipp Filippowitsch Preobrashenski. Diesen Typus des Proletariers hat er sich ganz anders vorgestellt: edler, disziplinierter, gesitteter. Doch das Ergebnis widerspricht der Vision des Wissenschaftlers: Lumpi, so der Name des Versuchskaninchen, hat so gut wie gar nichts mit den Vorstellungen des wohlhabenden Chirurgen gemein, wie sie nun in ihrem medizinischen Check feststellen: Konversation? „Fick dich!“ Nein, Lumpi will am liebsten sofort in die Kneipe, wie er rüde und rau zu verstehen gibt.
Es ist eine Schlüsselszene aus Michail Bulgakows Novelle „Hundeherz“, die faustisch-frankensteinsche Erschaffung eines neuen Geschöpfes. Und zwar aus einem Hund. Wie dieses Projekt völlig schiefgeht, das bringt Regisseurin Kathrin Mayr in ihrer drei-Personen-Adaption mit dem Titel „Das hündische Herz“ nicht ohne bösen Humor auf die Bühne. Ihre Inszenierung für das Kölner Theater im Bauturm gastierte an diesem Dienstagabend im Prinz Regent Theater Bochum.
Bulgakow verfasste seine Satire über die frühe Sowjetunion im Jahr 1925 – und wurde prompt darauf von den Machthabern um Stalin verboten. Zu polemisch und provokant erschien der Kaste Bulgakows Parabel über ein Experiment, das die Propaganda (und eugenische Umsetzung) des „neuen sowjetischen Menschen“ verballhornte. Zusammen mit seinem Assistenten Doktor Iwan Arnoldowitsch Bormental fängt Professor Preobrashenski einen streunenden Hund ein, um diesem Hypophyse und Hoden eines verstorbenen Kleinkriminellen und Alkoholikers einzupflanzen. Bis schließlich der Schwanz des Vierbeiners abfällt, das Fell zurück geht und der neue Proletarier geboren ist.
Die wilde Prosa von Bulgakows Groteske bringt Kathrin Mayr als körperbetonten Reigen auf die Bühne: Der Lumpi des stark aufgelegten Mario Neumanns jault, winselt, hüpft und tobt auf der Bühne. Alles, um sich dem Experiment zu entziehen, dessen Ergebnis den Forschern schließlich ihre Hybris vor Augen führen wird.
Mario Neumann gibt danach einen Proleten, der sich allen Maßregeln widersetzt: renitent und archaisch, hedonistisch und simpel. Sascha Tschorns Preobrashenski versucht, sein Homunkulus-Produkt zu bändigen. Vergeblich. Der athletische Pablo Konrad, der – wenn er nicht die auktoriale Erzähler-Position einnimmt – in die Rolle des Assistenten Bormental schlüpft, fährt angesichts dieses schwer handhabbaren Proleten ebenso unzivilisiert wie dieser Lumpi aus der Haut. Um gleich darauf den eigenen Puls zu messen. In der Leistungsgesellschaft gilt es, Kontrolle über sich zu bewahren.
Denn Mayr destilliert in ihrer Adaption das Zeitlose aus Bulgakows Stalinismus-Schelte: die Eugenik, die in der Genforschung weitergesponnen wird. Zudem tragen alle drei Akteure bleich-farbige Kleidung, fast Sport-Dresses, die ja spätestens seit Jelineks „Sportstück“ als Fingerzeig auf Konkurrenz- und Konformitätsdruck begriffen werden darf. Die Pfeiler einer bürokratischen Umklammerung zählt Lumpi dagegen selbst auf: Einwohnermeldeamt, Mietvertrag, Wohngeld, Hartz 4. Dabei zeugt er selbst davon, dass der rohe, irrationale Kern eines Menschen sich nicht in jede biopolitische Agenda einflechten lässt. Und diese „Hundeherz“-Adaption spannt den Bogen dieser Erkenntnis vom Stalinismus bis hin zum neoliberalen Perfektionswahn.
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