Es war die Zeit der Bubiköpfe, der knabenhaften Damenmode und der Einführung des Rundfunks. Eine Stilrichtung prägte das „goldene Jahrzehnt“ besonders: Die Neue Sachlichkeit. Das Museum Folkwang widmet sich in der Ausstellung „Unsere Zeit hat ein neues Formgefühl“ der Grafik, der Fotografie und dem Plakat der 1920er Jahre.
Die neuen technischen Möglichkeiten und ästhetischen Theorien inspirierten auch die Künstler der Neuen Sachlichkeit. Bewusst grenzten sie sich vom Expressionismus ab, sie wollten die optische Erscheinung des Gegenstands wiedergeben, während der Expressionist sein Erleben für den Betrachter deutlich machen möchte. „In den Werken spiegelt sich Zurückhaltung und Ruhe. Aspekte, die im Expressionismus keine Beachtung finden“, erläutert Tobias Burg, Kurator für Grafik. In der Grafischen Sammlung befinden sich etwa achtzig Exponate, darunter zahlreiche Portrait- und Landschaftsdarstellungen sowie konstruktivistische Arbeiten. Wegweisend für die Neue Sachlichkeit war besonders Gustav Friedrich Hartlaub, Direktor der Mannheimer Kunsthalle. Er erfasste 1925 in der Ausstellung „Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ die neuen Tendenzen.
Unterschiedliche Betrachtungsweise An seiner Ausstellung beteiligten sich 32 Künstler, unter anderem auch Max Beckmann, dessen Werke heute auch im Museum Folkwang zu sehen sind. Tobias Burg erklärt, dass „seine früheren Arbeiten eine ganz andere Linienführung als das Spätwerk“ habe. Das Bildnis Reinhard Piper (1921) zeichne sich aufgrund seiner feinen Linien aus, während ein Portrait von Baron Simolin (1928) eher dicke Striche aufweise. „Die Bilder rufen deshalb eine unterschiedliche Betrachtungsweise hervor“, so Tobias Burg. Stets benutzte Max Beckmann nur wenige Striche um eine für ihn so typische Zeichnung fertigzustellen.
Das Deutsche Plakat Museum im Museum Folkwang zeigt in drei Bereichen rund siebzig Arbeiten. Drei Entwicklungslinien sind hier zu erkennen: das politische Plakat, das Poster für Film und Fernsehen und die von Bauhausideen beeinflusste Neue Typographie. Plakatgeschichtlich lässt sich von „langen zwanziger Jahren“ sprechen, denn die Dynamik setzt bereits mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ein und endet in der Mitte der dreißiger Jahre. Im Wahlkampf zur Besetzung der Nationalversammlung gab es erstmals Plakate, die für die verschiedenen Parteien warben.
Expressives Plakat in den Massenmedien
Aufgrund ihrer Vielzahl sei dies „durchaus unübersichtlich“ gewesen, erklärt René Grohnert, Leiter des deutschen Plakatmuseums Folkwang. „Die Brutalität an der Wand“ sei dabei „ein Spiegel der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen“. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs fand das expressive Plakat seinen Weg in die Massenmedien. Zunächst waren es die politischen Plakate, die mit hoch emotionaler Formsprache die Parteien bewarben. Nach und nach wurden aber auch kulturelle Plakate derart gestaltet, in die Produktwerbung schaffte es aber kaum ein expressives Plakat.
Mit der wirtschaftlichen Prosperität in der Mitte der 20er-Jahre geht ein erhöhtes Reklameaufkommen einher. Mit der Neuen Typographie können farbige Bilder auf große Flächen gedruckt werden, die Schrift wird vielseitig eingesetzt. Mit wuchtigen Farben wird für den Tanz oder eine Gesellschaftskomödie geworben. Werbeplakate für Kinohits zeigen figürlich illustrativ die Filmstars in ihrer Rolle, meist für die UfA. „Das Kino ist in dieser Zeit wichtig“, sagt René Grohnert.
Schnörkellose Schönheit
Die große „Fotografie-Ausstellung“ hält ganz unterschiedliche Werke bereit: Helmar Lerskis Köpfe des Alltags beeindrucken aufgrund ihrer schnörkellosen Schönheit, die Sachfotografie von Albert Renger-Patzsch besticht mit ihrer Imposanz. Mit rund 150 Bildern und Zeitschriften macht die Fotografische Sammlung das „Neue Sehen“ anschaulich. „Die fotografische Praxis der 1920er-Jahre ist die Grundlage der modernen Fotografie“, betont Ute Eskilsden, Kuratorin der fotografischen Sammlung.
Typisch seien die extremen Perspektiven, Montagen und Fotogramme. Gegenüber der Malerei hat die Fotografie auch weitere Vorteile: „Fotografien sind transportierbar und ließen sich reproduzieren“, so Ute Eskilsden. Für die weiblichen Künstler bedeutete die Fotografie aber auch gesellschaftliche Teilhabe: „Die Künstlerinnen mussten nicht alleine im Atelier arbeiten, sondern befanden sich inmitten des Geschehens.“ Deshalb widmet sich das Museum Folkwang in einem eigenen Bereich dem Schaffen der Fotografinnen. Arbeiten von Aenne Biermann, Florence Henri, Germaine Krull oder Annelise Kretschmer zeugen von der künstlerischen Produktivität dieser Jahre. In einem Punkt sind sich alle Kuratoren einig: Die Zeit zwischen den Weltkriegen sei zwar kurz, aber aus künstlerischer Sicht sehr bereichernd gewesen.
"Unsere Zeit hat ein neues Formgefühl" I Museum Folkwang Essen I 28.4.-5.8. 2012 I Infos: 0201 884 50 00
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