Daniela Comani benutzt für ihre Bilder Apple Fly-Over oder Google Earth und zeigt im Essener Folkwang Glitches, in denen sich markante Architekturen zu neuen virtuellen Realitäten verflüssigen. trailer sprach darüber mit Thomas Seelig, dem Leiter der Fotografischen Sammlung des Museums.
trailer: Herr Seelig, erklären Sie mal für Computer-Amateure: Was ist denn ein Glitch?
Thomas Seelig: Im Grunde genommen sind es technische Fehler, die sich beim Kopieren und Umrechnen von Bilddaten ergeben, so dass sie sich visuell übereinander schieben. Wie im Sound gibt es solche Rückkopplungen auch auf visueller Ebene. Das sind sogenannte Glitches.
Und damit arbeitet die Künstlerin Daniela Comani?
Richtig. Daniela Comani ist eine deutsch-italienische Künstlerin, die in Berlin lebt. Sie ist mit verschiedenen Programmen durchs Internet gesurft und hat versucht, eine Enzyklopädie von bekannten Orten zusammenzustellen. Sie hat die Welt dazu aber nicht selbst bereist. Vielmehr hat sie mit verschiedenen Softwares, z.B. Apple Fly-Over oder Google Earth, Orte besucht und dabei festgestellt, dass diese Orte sich nicht so fein und konkret wie durch die Zentralperspektive in der Fotografie abbilden. Dazu muss man wissen, dass sich diese Bilddaten immer aus verschiedenen Einzelansichten zusammenrechnen. Das führt dazu, dass auf den Stadtansichten, auf denen man normalerweise Menschen vermuten würde, niemand ist. Die Menschen werden von der Software unterschlagen, weil sie im Grunde genommen nicht in der Summe aller Bilder vorhanden sind. So sehen wir hier menschenleere Stadtansichten.
Aber Google Earth wird nicht einfach zu Kunst erklärt?
Die Bilder, welche Comani durch die Programme sieht, interpretiert sie weiter und extrahiert beispielsweise aus Google Earth ihre eigenen Bilder. Dazu muss sie nicht mehr selbst reisen, sie macht ihre Reisen im Internet.
Wo liegt der Reiz solcher konzeptioneller Fotografie, ist das überhaupt noch Fotografie im herkömmlichen Sinne?
Fotografie ist heute sehr breit definiert, wenn es um den künstlerischen Umgang mit fotografischen Bildern geht. Viele Bilder werden heutzutage nicht mehr nur durch eine Kamera generiert, sondern durch Computerprogramme, durch Computerspiele und so weiter. Da kommen ganz viele Bilder auf uns zu. So wie die Fotografin oder der Fotograf vorher die Welt interpretiert hat, wird jetzt unsere digitale Welt aus künstlerischer Sicht kommentiert.
Die Technologie, von Apple und Google, die die Künstlerin nutzt, war ja ursprünglich mal für die Rüstungsindustrie entwickelt worden – passt das jetzt auch in diese Zeit?
Ich denke, viele Innovationen sind im Staatsauftrag entstanden, Entwicklungskosten hat häufig das Militär getragen. Zum Beispiel wurde das Nachtsichtgerät für diese Kontexte entwickelt. Heute werden sie auch für künstlerische Fotografien mit Infrarot-Technik verwendet. Auch in der Serie von Daniela Comani ist es so, dass diese Rüstungs-Technologie den Weg in die Alltagswelt gefunden hat und unser mediales Verhalten verändert hat. Ich gehöre noch einer Generation an, die eine Landkarte in der Hand gehalten hat, um sich zu orientieren. Die jüngere Generation macht das heute intuitiv auf dem Bildschirm. Da ist ein ungeheurer Epochenwechsel im Gange. In 20 oder 30 Jahren wird man schon wieder mit Verwunderung auf das schauen, was heute Stand der Technik ist.
Was erwarten wir denn vom Dialog mit den Werken aus der Fotografischen Sammlung aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Werden das dann auch die ersten Luftbilder sein?
Comanis Bildwelten stoßen beispielsweise auf Bilder aus dem 19. Jahrhundert, auf eine wunderbare Werkauswahl von Édouard Baldus. Er war damals ein sehr bekannter Fotograf, der rund 20 Jahre nach der Erfindung der Fotografie Mitte der 1850er Jahre vom französischen Staat die Aufgabe erhalten hatte, öffentliche Gebäude zu fotografieren. So war er dann in Paris, in Reims, in Arles und so weiter und hat mit der Großbildkamera diese Gebäude fotografiert. Damals war es so, dass die Belichtungszeiten teilweise mehrere Minuten betrugen, um die großen, lichtsensiblen Glasnegative zu belichten. So kam es, dass auch in diesen Bildern Menschen nicht so sehen waren. Im Grunde genommen bewegen wir uns in der Ausstellung zwischen den Polen eines sehr langsamen, statischen Mediums im 19. Jahrhundert bis hin ins 21. Jahrhundert, wo die Bilder flüchtig geworden sind und im Computer ständig neu gerechnet werden.
Und sie sind sich dann visuell ähnlich?
Nicht unbedingt. Die Aufnahmen aus dem 19. Jahrhundert sind extrem scharf und es sind sehr großformatige Abzüge. Daniela Comani hat ihre Bilder zwar auf dem Computer errechnet, sie interessanterweise dann aber als kleine schwarzweiße Bildpostkarten reproduziert, um den enzyklopädischen Gedanken ihres Projekts auf diese Weise weiterzuspinnen.
Das wird dann aber doch wieder sehr analog?
Daniela Comanis Werkgruppe Planet Earth: 21st Century schlägt einen großen Bogen hin zum Analogen, sie benutzt sozusagen die Rhetorik des Analogen, um ein digitales Thema zu erzählen.
Daniela Comani – Planet Earth: 21st Century | 20.1. bis 11.6. | Museum Folkwang, Essen | 0201 88 45 000
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