Knapp vier Jahrzehnte der neoliberalen Narrative brachten es mit sich, dass die Vorstellung einer solidarischen Gesellschaft immer mehr aus dem Diskurs verdrängt wurde. Erst während der Corona-Pandemie wurden Teile des Vokabulars wieder ausgepackt. Begriffe wie Solidarität kehrten zurück, wenngleich nur auf die zeitlich begrenzten Maßnahmen – wie etwa Social Distancing – bezogen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass auch die neuen Wortschöpfungen der Jugendsprache soziale Kälte ausstrahlen: beispielsweise der in der Gaming-Kultur entstandene Begriff Non-Playable Character, das Mitmenschen zur passiven, „nicht-spielbaren“ Staffage reduziert.
Vielleicht lassen sich durch körperlichen Ausdruck die Dimensionen von Gemeinsamkeit, von Augenhöhe und Nähe wieder hervorrufen. So lässt es zumindest das choreografische Vorhaben vermuten, das Marie-Lena Kaiser auf der Bühne des Maschinenhauses Essen umsetzen will. Ihr Titel: „Nah“. Und der programmatische Wink verweist nicht nur auf die Überwindung einer räumlichen Distanz, sondern ebenso auf das Gefühl einer Verbundenheit, einer Vertrautheit. Kaiser benutzt den Tanz als Kompass, um ein Miteinander auszuloten, welches nicht durch Hierarchien und Ausgrenzungen geprägt ist.
Die in Essen ansässige Choreografin und Tänzerin begreift ihre Arbeiten als Gruppenprozesse, die Konzepte von Begegnung und Zusammenwirken zwischen den Tänzer:innen und den Zuschauer:innen erforschen. Die Bühne fungiert dabei als Trainingsraum, in dem Machtstrukturen hinterfragt werden sollen. Dieser Ansatz findet sich ebenso in ihrer jüngsten Produktion, die Prozesse und Vorgänge der Zwietracht veranschaulichen und damit transparent machen will.
„Nah“ beginnt bereits mit einer Anordnung, die das Publikum aus der Passivität herausholt: Die Tänzer:innen bewegen sich immer wieder auf die Zuschauer:innen zu. Und auch letztere erhalten die Möglichkeit, ihre Plätze zu wechseln. Die Perspektive im Raum macht Kaiser damit selbst zum choreografischen Motiv, als Spielball, der Distanz und Grenzen erprobt, ohne Antworten zu liefern. Es geht vielmehr um Tanz als partizipatorisches Training – ohne Non-Playable Characters.
Nah | 24., 25.11. | Maschinenhaus Essen | 0201 438 65 70
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Wenn KI choreografiert
„Human in the loop“ am Düsseldorfer Tanzhaus NRW – Tanz an der Ruhr 01/25
Tanzen, auch mit Prothese
Inklusive Tanzausbildung von Gerda König und Gitta Roser – Tanz in NRW 01/25
Die Erfolgsgarantin
Hanna Koller kuratiert die Tanzgastspiele für Oper und Schauspiel – Tanz in NRW 12/24
Die Grenzen der Bewegung
„Danses Vagabondes“ von Louise Lecavalier in Düsseldorf – Tanz an der Ruhr 12/24
Krieg und Identität
„Kim“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 11/24
Im Kreisrund sind alle gleich
4. Ausgabe des Festivals Zeit für Zirkus – Tanz in NRW 11/24
Liebe ist immer für alle da
„Same Love“ am Theater Gütersloh – Prolog 11/24
War das ein Abschied?
Sônia Motas „Kein Ende“ in den Kölner Ehrenfeldstudios – Tanz in NRW 10/24
Torero und Testosteron
„Carmen“ am Aalto-Theater in Essen – Tanz an der Ruhr 10/24
Jenseits von Stereotypen
„We Love 2 Raqs“ in Dortmund – Tanz an der Ruhr 09/24
Kaffee, Kuchen, Stacheldraht
12. Tanz.Tausch Festival in der Kölner TanzFaktur – Tanz in NRW 08/24
Gegenwart einer Gegenkultur
„Pump Into The Future Ball“ in der Jahrhunderthalle Bochum – Tanz an der Ruhr 08/24
Wenn Hören zur Qual wird
„The Listeners“ in Essen – Prolog 01/25
Zwischen Realität und Irrsinn
„Kein Plan (Kafkas Handy)“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Prolog 01/25
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 01/25
Wenn die Worte fehlen
„Null Zucker“ am Theater Dortmund – Prolog 01/25
„Ich war begeistert von ihren Klangwelten“
Regisseurin Anna-Sophie Mahler über Missy Mazzolis „The Listeners“ in Essen – Premiere 01/25
Ein zeitloser Albtraum
Franz Kafkas „Der Prozess“ im Bochumer Prinz Regent Theater – Prolog 12/24
„Vergangenheit in die Zukunft übertragen“
Regisseur Benjamin Abel Meirhaeghe über „Give up die alten Geister“ in Bochum – Premiere 12/24
Freigelegte Urinstinkte
„Exposure“ auf PACT Zollverein in Essen – Prolog 11/24
Stimme gegen das Patriarchat
„Tabak“ am Essener Grillo-Theater – Prolog 11/24