Das Chaos zweier Familien hat eine Schneise der Verwüstung im Café Chioggia hinterlassen. Theken, Tische und Stühle stapeln sich zu gefährlichen Möbelhalden, die Decke hängt bedrohlich herab. Da erinnern sich der Cafébesitzer Isidoro, das Paar Pasqua und Toni und die vollbusige Madonna plötzlich an früher, an uneingelöste 68er-Utopien – und beginnen, gemeinsam zu kuscheln. Die Renaissance der Utopie aus dem Chaos.
Während Carlo Goldonis Stück „Viel Lärm in Chiozza“ die Liebeshändel zweier Fischerfamilien zwischen Volksstück und Sozialstudie meint, geht es im Bochumer Schauspielhaus nun ums große Ganze. Nuran David Calis hat nicht nur die Konstellationen und die Funktionen der Figuren verändert, er deutet Chioggia zum „Schoß der Gesellschaft“ um. Der Komödienstoff wird zur Großmetapher für Arbeits-, Lieblosigkeit, Utopie- und Sinnverlust und sonstige Defizite hochgejazzt.
Aus Goldonis Fischern ist eine prekäre Kleinstadtgesellschaft geworden, in der jeder einen Job sucht und alle irgendwie im Café Chioggia arbeiten, in dem sich aber keine Gäste einfinden. Besitzer Isidoro (Jürgen Hartmann) versucht, seinen Laden, der in Irina Schicketanz’ Ausstattung mit grauen Normtischen, metallkühlen Theken und Wintergarten vor Fabrikschlotidylle allzu cool aussieht, mit Werbeauftritten in Internet vollzukriegen. Das Problem sind allerdings die Mitarbeiter. Da ist die alleinerziehende Küchenchefin Madonna im Leopardendress (Veronika Nickl), die sich ihrer drallen Sinnlichkeit allzu bewusst ist. Ihr Sohn Fortunato (entrückt: Marco Massafra) glaubt sich von Aliens verfolgt, während ihre in Leder gewandete Tochter Checca (blass: Barbara Hirt) Gesellschaftskritik von der Stange übt („Immer höher, immer schnell geht nicht mehr“).
Madonnas Widersacherin ist die Thekenchefin Pasqua, von Barbara Engelhart als Motorradbraut gespielt, hinter deren rotziger Breitmäuligkeit die Verzweiflung nistet. Ihr allzu lethargischer Sohn Beppo (Matthias Eberle) liebt Checca, die fluchtwillige Tochter Lucietta (Constanze Wächter) wiederum hat’s mit dem bodenständigen Titta Nane (überzeugend: Krunoslav Šebrek). Jede der Figuren darf in Monologen ein Bulletin zur Gefühls- und sonstigen Lage absondern, vor allem Pasquas bärtiger Philosophenehemann Toni (gutmütig: Werner Strenger) muss langatmig über Aufklärung und Brückenbau salbadern.
Die Charaktere wirken ausgestanzt, Konfektionsware in der Warteschleife der Unzufriedenheit. Aufgemischt wird der Mikrokosmos durch die Ankunft des turko-italienischen Barmanns Toffolo (Ismali Deniz). Alles klar: der Migrant als Lakmustest der Toleranz. Calis reichert das szenische Geschehen zwar mit Einlagen der HipHop-Tänzer an, lässt Lieder intonieren und Videoseinspielungen projizieren. Doch bei aller Ironie, der Zugriff auf den Stoff strotzt von Klischees, Naivität und Gutmenschentum, der sich bis zum Aufruf einer Occupy Chioggia-Bewegung steigert. Am Ende gibt’s natürlich ein Happy End, und alle bauen gemeinsam das derangierte Café wieder auf. Wenn alles nur so einfach wäre!
„Zoff in Chioggia“ I R: Nuran David Calis | Bochumer Schauspielhaus | 10./30.3., 19.30 Uhr | www.schauspielhausbochum.de
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