Der Abend beginnt mit Warten. Der Regisseur wartet, der Hauptdarsteller wartet, und auch der Inspizient muss warten. Ohne dass jemand ein Wort verliert, kann man in ihren Gedanken lesen: Myrtle Gordon, die Diva, kommt wieder einmal zu spät. Die Schauspielerin steht im Zentrum von John Cassavetes‘ 1977 gedrehtem Film „Opening Night“, den das Schauspielhaus Bochum jetzt auf die Bühne brachte.
Der amerikanische Regisseur ließ in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit seinen fast improvisiert wirkenden, ganz um Darsteller wie Gena Rowlands, Peter Falk oder Ben Gazzera aufgebauten Filmen die Herzen aller Autorenfilmer höher schlagen. „Opening Night“ beschreibt die Selbstzweifel eines weiblichen Theaterstars in den Vierzigern. Myrtle Gordon soll in dem neuen Stück der 70jährigen Autorin Sarah eine alternde Frau spielen. Während Regisseur Manny den Laden zusammenzuhalten versucht und der männliche Star Maurice auf eine zweite Chance hofft, taucht Myrtle regelrecht in ihre Krise um das eigene Altern ein. Zum Auslöser wird die Begegnung mit dem jungen Fan Nancy, der kurz darauf bei einem Unfall stirbt.
Der Reiz der Dramatisierung liegt natürlich im Theater-auf-dem-Theater-Effekt. Bühne und Zuschauerraum sind in den Bochumer Kammerspielen nur durch ein paar Stufen getrennt, eine drehbare Wand deutet die Spielorte mit ein paar Fotos und einer Theatergarderobe an (Bühne: Alex Harb). Katharina Linder spielt die Myrtle Gordon sehr zurückgenommen. Keine Überspanntheit wie noch bei Gena Rowlands, sondern ein Hadern mit der eigenen Weiblichkeit und eine stochernde Suche in der Playlist der eigenen und fremden Identitäten. Die Grenzen zwischen Leben und Kunst verschwimmen dabei oft bis zur Unkenntlichkeit. Immer wieder zieht sich Myrtle in den sicheren Hafen des „Es ist alles nur Spiel“ zurück.
Die Inszenierung überschreitet lustvoll ständig die Grenzen zwischen Bühnen- und realem Leben, ja sogar die zwischen Leben und Tod. Paroli bietet Myrtle nämlich vor allem die gestorbene Nancy der Sarah Grunert, die Regisseur Anselm Weber zu einer regelrechten Wiedergängerin aufbaut. Sie bleibt als Schatten und jugendliches Traumbild auf der Bühne anwesend, verstrickt die Schauspielerin in emphatische Debatten um Jugend und Alter und distanziert sich schließlich von dem zuvor angebeteten Star.
Eher blass bleibt dagegen Filmstar Peter Lohmeyer als Maurice, dessen uneitler Stoizismus weder das Ringen um ein Comeback, noch die frühere Liebesbeziehung zu Myrtle erkennen lässt. Renate Becker als scharfzüngige Sarah und Bernd Rademacher als verzweifelt ruhiger Regisseur Manny, Veronika Nikls als Garderobiere und Manfred Böll als Inspizient komplettieren das Ensemble. Am Ende erweist sich in Webers Regiekonzeption gerade das Unterspielen als Manko. Die emotionalen Abgründe bleiben flach, die Irritationen berechenbar, so dass letztlich kaum mehr als ein routinierter Theaterabend auf der Habenseite steht.
„Opening Night“ nach dem gleichnamigen Film von John Cassavetes | R: Anselm Weber | Bochumer Schauspielhaus | 5./15. (19.30 Uhr)/20.5. 19 Uhr | www.schauspielhausbochum.de
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