trailer: Herr Kleiner, der unter jungen Menschen weiterhin grassierende Berufswunsch, „irgendwas mit Medien zu machen“, führt üblicherweise in die Arbeitslosigkeit oder ins Dauerpraktikum. Sie hingegen haben ihn als Professor und gefragter Experte in Presse, Radio und Fernsehen auf maximal gloriose Art umgesetzt. Wie schafft man das denn?
Marcus S. Kleiner: Leidenschaft, Konsequenz und glückliche Zufälle. In dieser Reihenfolge, gleich mehrfach hintereinander. Nach Abitur und Zivildienst wollte ich in meiner gnadenlosen, narzisstischen Selbsteinschätzung als 18-Jähriger eigentlich Schauspieler werden. Zugleich hatte meine Philosophie-Lehrerin auf dem Gymnasium in Xanten am Niederrhein bereits meine Liebe zum Denken geweckt. Zum Denken und zum ästhetischen Genießen.
Und zum konzeptuellen und theoretischen Reflektieren, oder?
Absolut. Im Deutschunterricht faszinierte mich, wie literarische Figuren stellvertretend für uns die Dinge durchleben. In der Politik, wie alles zusammenhängt und sich die Welt aus verschiedenen Perspektiven denken lässt. Was ist überhaupt Gesellschaft? Was Kommunikation? Solche Fragen haben mich schwer geprägt. Die Popwelt hatte für mich auch immer mit Denken zu tun. Allein, wie in Songtexten und Performances philosophische Höhen und Tiefen zelebriert werden können …
Jetzt fragt sich der kleine Mann an der Trinkhalle natürlich: Wofür bezahle ich mit meinen Steuern als Malocher einen Medienprofessor? Einen Ingenieur, einen Mathematiker, vielleicht auch einen Anglisten, der Englischlehrer ausbildet, das kann ich einsehen. Wie erklären Sie bei einem Bier und einem Frühstückskorn den Nutzen Ihrer Fachdisziplin?
Zu Anfang meiner Laufbahn als Akademiker habe ich noch geglaubt, Bildungsarbeit sei selbstevident. Ist doch klar, dass es die Geisteswissenschaften geben muss. Wir müssen uns nicht legitimieren. Das sehe ich heute anders. Man sollte in der Tat erklären, wieso diese gut bezahlte Existenz auch für Menschen relevant ist, die an harten Maschinen schuften oder das Grubenholz hauen, um im Klischee zu bleiben. Denn selbstverständlich sind nicht nur die Aussterbenden Malocher, sondern auch Ärzte oder Lehrerinnen. Dieses Festhalten am Proletarierklischee, das es in der Wirklichkeit kaum noch gibt, nutzen manche als Vorwand, sich niemals entwickeln zu müssen.
In Ordnung, der Mensch soll sich öffnen und seine geistige Bockigkeit nicht zur Klassen-Ehre hochjazzen. Dennoch: Was hat beispielsweise die Vorliebe für eine bestimmte Musik oder das Nachdenken oder Nichtnachdenken über Filme, Serien oder Alltagskultur für einen Einfluss auf den Weltengang?
Es geht um die Fähigkeit, die Reibungen und Widersprüche einer Zeit zu identifizieren, um über Skepsis, Zweifel und kritisches Denken weiterzukommen. Denn wie Bert Brecht so schön gesagt hat: Wenn es Widersprüche gibt, gibt es Hoffnung. Die Welt ist weder am Ende noch leben wir in der besten aller möglichen Zeiten. Man darf sich halt niemals einrichten. Das ist mir am wichtigsten, wenn ich Unterricht gebe oder mich öffentlich zum Zeitgeschehen äußere. Ich möchte die Leute aus der Komfortzone dessen herausholen, was man alltäglich denkt und von dem man glaubt, dass es das absolut Richtige ist, weil man sich daran gewöhnt hat.
Foucault hatte seine Machtanalyse, Luhmann seine Systemtheorie, Postman seine Medien-Ökologie: Was ist Ihr spezielles, eigenständiges Denkmodell?
Früher war ich fasziniert von solchen Welterklärungsmustern, doch nach der Promotion habe ich den Glauben an und das Verlangen nach Großtheorien komplett verloren. Ein großer, eigener Theorieentwurf wäre für mich wie ein Gefängnis, das mich festlegt, obwohl ich permanent weitergehe, weil ich dauernd Neues kennenlerne. Mein Fokus liegt auf Pop und Kritik von Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft, Politik. Das ist wohl mein genuinster Beitrag, den so vorher noch niemand ganz klar formuliert hat: Pop als Bildungskultur.
Trägt das Nachdenken über Pop den Bildungsaspekt in sich oder die Popkultur selbst?
Die Popkultur selbst. Pop enthält die ganze Welt im Kleinen, ist ein Tummelfeld für große Gefühle, tiefe Diskurse oder völligen Nonsens. Pop ist die Akademie des Alltags, ein Bildungsprogramm außerhalb der offiziellen Stellen und Institutionen. Über ihn abstrakt nachzudenken, ist professionalisierte Bildungsarbeit, Wissensarbeit, letztlich Hermeneutik. In ihn abzutauchen, Subkulturen mitzumachen und im ästhetischen Erlebnis aufzugehen, war für mein Leben aber die noch prägendere Erfahrung.
Wie zeigt sich denn die Universitätswelt von innen? Immerhin gibt es dort nur sehr wenige Positionen für tausende qualifizierter Anwärter.
Der akademische Betrieb ist ein hart umkämpftes Feld. Niemand kann einfach so von Magister über Promotion bis Habilitation durchmarschieren. Missgunst, Neid, Ausgrenzung und Negativität sind durchaus Alltag in den Fluren. Ich musste lernen, dass die klassische Universität nicht einladend, sondern eher ausschließend ist. Das Hochschul- und Wissenschaftssystem bildet eine vollkommen eigene Sphäre, der ich seit der Promotionszeit sehr ambivalent gegenüberstehe. Es hat mich als System nie angezogen, doch ich liebe es, mich in Themen zu graben, zu unterrichten und fürs Nachdenken und Texte schreiben bezahlt zu werden.
Sie lehren in der Medienhauptstadt Berlin, leben aber als Ruhrgebietsgewächs in Duisburg. Was bedeutet Ihnen die Stadt?
Der ganze Ruhrpott ist für mich wie ein Naherholungsgebiet. Alles wirkt so entspannt und locker. Meine Frau und ich leben am Kaiserberg, mit Blick auf den Wald in der Nähe des Zoos. Besser geht’s nicht. Der Landschaftspark, der Revierpark Mattlerbusch, die Sechs-Seen-Platte, aber auch die alten traditionellen Clubs wie das Djäzz oder das Café Steinbruch – sobald ich in Duisburg eintreffe, kann ich loslassen und ganz bei mir sein, auch wenn die Einfahrt selbst durch den sehr schäbigen Bahnhof getrübt wird. In Duisburg bleiben alle Fünfe gerade.
Im Vergleich zu Berlin ist es popkulturell allerdings tiefste Provinz, oder?
Das Ruhrgebiet verkauft sich unter Wert. Wir haben die Ruhrtriennale oder das Traumzeit-Festival, aber die Künstler dort sind größtenteils eingekauft und kaum aus der Region. Die lokalen Akteure sind häufig wütend und enttäuscht über die mangelnde Wertschätzung, richten sich aber auch ein wenig in der Klagerolle ein. Es fehlt die Energie zu sagen: Komm, geiler Scheiß, wir machen jetzt was vom Pott aus!
Publikationen und Aktivitäten: https://medienkulturanalyse.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
All die Frauen und Prince
Zwei Musikbücher widmen sich Sex, Körper und Gender im Rock ‚n‘ Roll – Popkultur 06/20
„Ich wollte immer nur Liebeslieder schreiben“
Konstantin Wecker kommt nach Dortmund und Essen – Interview 08/19
Georg Dybowski
Nahaufnahme 06/19
„Ein Gedanke pro Song“
Guido Scholz von Kapelle Petra über Song-Rezepte und eigene Wege – Interview 03/19
„Aus akutem Kummer kann kein guter Song entstehen“
Der Bochumer Musiker und Schauspieler Dominik Buch über aufrichtige Kunst – Interview 02/19
Historische Elektrotechnik
Reissues entdecken Elektronik der 70er und frühen 80er Jahre neu – Kompakt Disk 01/19
„Introvertiertheit ist keine Allüre“
Kevin Werdelmann über das neue Slowtide-Album – Interview 01/19
Engagiertes Stelldichein
Die Verleihung 1Live Krone in der Jahrhunderthalle Bochum – Musik 12/18
„Die Leute auf ihr Unglück aufmerksam machen“
Die Kölner Punkrock-Band Detlef über Mitmenschen und eine einzigartige Stimmfarbe – Interview 12/18
„Kompositionen sind entscheidender als die Technik“
Oliver Bartkowski von Bergmann & Bartkowski über „Skull City“ – Interview 12/18
Warmer Mantel zwischen Büchern
Singer/Songwriter Matze Rossi mit Konzert im Dortmunder U – Musik 11/18
Grenzenlos episch
Live gespielte Game-Soundtracks werden zum Megaevent – Popkultur in NRW 11/18
Das blaue Licht in Bochums Norden
Otto Groote Ensemble im Bochumer Kulturrat – Musik 12/24
Schummerlicht und Glitzerhimmel
Suzan Köcher's Suprafon in der Bochumer Goldkante – Musik 12/24
Pessimistische Gewürzmädchen
Maustetytöt im Düsseldorfer Zakk – Musik 11/24
Komm, süßer Tod
„Fauré Requiem“ in der Historischen Stadthalle Wuppertal – Musik 11/24
Konfettiregen statt Trauerflor
Sum41 feiern Jubiläum und Abschied in Dortmund – Musik 11/24
Erste Regel: Kein Arschloch sein
Frank Turner & The Sleeping Souls in Oberhausen – Musik 10/24
Eine ganz eigene Kunstform
Bob Dylan in der Düsseldorfer Mitsubishi Electric Halle – Musik 10/24
Psychedelische Universen
Mother‘s Cake im Matrix Bochum – Musik 10/24
Sich dem Text ausliefern
Bonnie ,Prince‘ Billy in der Essener Lichtburg – Musik 10/24
Improvisationsvergnügen
Das Wolfgang Schmidtke Orchestra in der Immanuelskirche – Musik 09/24
Essen-Werden auf links drehen
Cordovas im JuBB – Musik 09/24
Rock ‘n‘ Roll ohne Schnickschnack
Gene Simmons und Andy Brings in der Turbinenhalle Oberhausen – Musik 08/24
Vielfalt, Frieden und Respekt
3. Ausgabe von Shalom-Musik.Koeln – Musik 07/24