Es war einmal in der guten alten Zeit: Die Bohlen des Terrassenbodens sind inzwischen angefault und brüchig, aus dem Gitter der Pergola Teile herausgebrochen. Und die Bewohner dieser kleinen Gartenlaube wirken in ihren Abendkleidern und tarnfleckigen Anzügen (Ausstattung: Franziska Gebhardt) zwar elegant, aber zugleich wie mit einer Staubschicht überzogen. Alles nur Erinnerung? Oder ist diese Gesellschaft eher morsch und überständig bis in Balken und Knochen?
Zehn junge SchauspielschülerInnen spielen am Schauspielhaus Bochum „Im Westen nicht Neues“, Erich Maria Remarques Roman von 1928 über den jungen Paul Bäumer, der zusammen mit seinen Klassenkameraden in die Reichswehr eingezogen wird und auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges alle vor- und unvorstellbaren Kriegsgräuel erlebt. Regisseur Henner Kallmeyer hält sich nicht lange mit Rollenzuweisungen auf, sondern lässt den Text mal solistisch, mal chorisch exekutieren, die Stimme von Paul Bäumer wandert munter durch die Gruppe – und vollzieht in der Entindividualisierung damit gleich eine zentrale Kriegserfahrung nach. Doch zunächst einmal stürmt der jugendliche Trupp die Bühne, klettert mit wildem Elan über die Pergola. Nach der Schlacht ist vor der Schlacht. Party geht immer. Man putscht sich auf, das Geplauder geht über ins Anstehen an der Feldküche, in der es plötzlich doppelte Rationen gibt, weil eine Kompagnie im Feld geblieben ist. Man besucht gemeinsam den Kumpel Franz im Lazarett, der noch nicht weiß, dass ihm ein Bein amputiert wurde, gibt sich den Anschein der Normalität, bis man den Kameraden als Leiche zum M*A*S*H-Song „Suicide Is Painless“ rausträgt. Der erbärmliche Alltag im Schützengraben wird genauso beschrieben wie die nervenaufreibenden Schreie der sterbenden Pferde oder die gierigen Ratten im Unterstand. Doch der fordernd mitreißende Erzählton hat einen ambivalenten Zug, in dem sich jugendliche Kriegsbegeisterung mit bourgeoisem Voyeurismus paart. Eine junge Frau hängt einem Mann neugierig auf der Hüfte, der gerade zum Angriff übergeht und Gas einatmet.
Krieg als Live-Act – wer wollte da nicht mal in der ersten Reihe sitzen. Zum nächtlichen Treffen mit den Französinnen ziehen sich die Jungs ihre Hemden aus und lassen sich sehnsüchtig berühren. Letzte Zärtlichkeit vor dem Exitus. Es wird viel gesungen und getanzt in der Aufführung, man donnert auf den Boden, rennt auf der sowieso schon kleinen Bühne des Theater unten und spielt vor allem auf Impuls – Schauspielschüler im Stadttheatermodus, oder was man dafür hält. Weniger wäre da manchmal mehr. Es sind vor allem die jungen Frauen, die sich lustvoll und mit makabrer Begeisterung in die Texte über Stummel-Beine, aufgebrochene Schädel und platzende Bäuche oder die Begegnung mit dem verletzten Feind und damit dem Tod stürzen dürfen. Auch da wirkt die Emphase mitunter etwas überzogen. Letztlich verträgt sich der Kriegsvoyeurismus der Nachgeborenen nicht allzu gut mit der Ich-Perspektive Remarques; nichtsdestotrotz ein Versuch, diesen Kriegsroman nicht platt nachzuempfinden, sondern ihn mit Gegenwart kritisch einzurahmen.
„Im Westen nichts Neues“ | R: Henner Kallmeyer | Di 5.5. 19.30 Uhr, Fr 15.5., Fr 29.5. je 19 Uhr | Schauspielhaus Bochum | 0234 33 33 55 55
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