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Hamburger Autorin Christina Sothmann ersegelt Literaturpreis an der Ruhr
Foto: Ulrich Schröder

Wohin düst das Richtungsding?

14. März 2016

„In alle Richtungen“: Literaturpreis in Essener Zeche Carl vergeben – Literatur 03/16

Durch einen Versprecher wurde aus einem „Dichtungsring“ das Projekt „Richtungsding“: Nach einem zeitverzögerten Start als „Unprojekt“ der Kulturhauptstadt.2010 etablierte sich die ursprünglich studentische Initiative allmählich als Konstante in der Literaturszene des Ruhrgebiets. Die frisch erschienene zehnte Ausgabe des im erweiterten Titel als „Zeitschrift für Gegenwartsliteratur“ bezeichneten „Richtungsding“-Hefts umfasst Beiträge zwischen Prosa und Lyrik sowohl von literarischen Newcomern als auch Wortprofis.

Rund 400 Einsendungen erreichten die siebenköpfige Redaktion aus allen Richtungen des deutschen Sprachraums zwischen Hamburg, Leipzig, Berlin und Wien, von denen 20 schließlich den Weg ins aktuelle Heft fanden. Nur ein Viertel dieser Autoren kommt aus NRW, davon zwei aus der Ruhr-Region. Gekrönt wurde das Ganze am 11. März mit einem finalen Wettlesen sechs ausgewählter Literaturschaffender in der Zeche Carl in Essen: Ein per Publikumsentscheid vergebenes Preisgeld von 300 Euro gewann die Hamburger Autorin und Redakteurin Christina Sothmann, mit ihrer einfühlsamen, erzählerisch ausgereiften Kurzgeschichte „Segeln mit Rena“.  

Ihr Thema ist die Selbstfindung des in einem Yachthafen zur Welt gekommenen Protagonisten, „rausgeflutscht zwischen einem Volvo Ocean Race und dem Admiral’s Cup“, der seine ersten Lebensjahre auf Segelbooten und später im Sportinternat mit Schwerpunkt Segeln verbringt. Trotz zahlreicher Regatta-Erfolge kehrt er auf dem Höhepunkt der Pubertät dem Internat und dem Segelleben den Rücken, um nach einem Intermezzo in der „Sparte Schiffsversicherungen“ schließlich in einer Zoohandlung Zierfische zu verkaufen: „Das Meergetier ist meine Familie (…).“ Handlungsleitender Konflikt ist die Auseinandersetzung mit der als Skipperin erfolgreichen Mutter, die nie verwinden kann, dass „das Kind, das man liebt, sein allergrößtes Talent vergeudet“. Erst nach ihrem plötzlichen Tod im Indischen Ozean findet der Sohn dank seiner – inzwischen schwangeren – Freundin Rena wieder zu größtmöglicher Nähe zur Mutter zurück und beschließt, ihr segelnd den letzten Wunsch einer Seebestattung im Pazifik zu erfüllen. Der Kreis schließt sich, und am Ende steht ein wehmütig-optimistischer Blick in die Zukunft: „Wir müssen uns beeilen mit dem Segeln, denn unser Kind soll an Land auf die Welt kommen.“ 

Raketenstart 2017: HerausgeberJan-Paul Laarmann blickt in die Zukunft

Andere Beiträge können nicht in gleichem Maße überzeugen, und das Publikumsvotum fällt mit einem Großteil der abgegebenen 47 Stimmen für Christina Sothmann eindeutig aus. Von den fünf weiteren Beiträgen des Abends werden wohl insbesondere zwei in Erinnerung bleiben: Zum einen ist da die „Chaoskantate“ von Myriam Klatt, die in Bochum Politik- und Literaturwissenschaften studierte und derzeit als Wahlberlinerin bundesweit für diverse TV-Formate arbeitet. Auch wenn in ihrem Text die Frage nicht wirklich schlüssig beantwortet scheint, warum das Abfackeln von Pappas Plattensammlung in der elterlichen Garageneinfahrt zwangsläufig zum Besuch einer „Sonderschule“ führen soll. Konzeptuell spannend ist auch die zukunftsgerichtete Satire „Mars is no fun“ des Berliner Studenten Lukas Valtin, die programmatisch bereits in die Richtung der neuen Richtungsding-Ausschreibung (Motto: „Rakete“, s.u.) weist. Allerdings verliert sich das satirische Potential des Plots ausgehend von der Grundannahme, dass Sex auf dem Mars keinen Spaß mache, ein wenig in den Weiten des absurden Textkosmos. Und dabei gäbe das aktuelle politische Geschehen auf dem derzeit einzig belebten Planeten unseres Sonnensystems viel mehr Spielraum für eine größtmögliche satirische Fallhöhe zwischen sinnfreier Marskolonie und krisenhaften irdischen Turbulenzen als etwas weit hergeholte Pointen wie „Schweizer Sowjetrepublik schließt ideologisches Bündnis mit Norwegens Küstenregion“.

Auch die Kurzerzählung „Wintertier“, die sich, wie Richtungsding-Redakteur Fabian May es beschreibt, „im selbstgewählten Gefängnis eines Pädophilen“ bewegt und aus der Feder der Bremer (Drehbuch-)Autorin Corinna Gerhards stammt, bringt an diesem Abend keinen Preis ein. Bereits zum vierten Mal wurde einer ihrer Texte bei einem Richtungsding-Wettbewerb „zufällig ausgewählt“, und einmal gehörte Corinna Gerhards bereits zu den Gewinnerinnen. Auch die in NRW geborene Schauspielerin und (Theater-)Autorin Frauke Angel ist schon zum zweiten Mal dabei. Ihr trotz des ernsten Themas – Krebs im Kindesalter – letztendlich lebensbejahender Beitrag „So fahren die Damen“ stimmt mit einem literarischen ‚memento mori‘ nachdenklich. Dies trägt sicherlich zu Fabian Mays Vorwort-Resümee über die ausgewählten Texte bei: „Ein gewisser Trend zur Endzeitstimmung ist (…) auffällig vielen gemein.“

Unter den sechs vorgetragenen Beiträgen des Abends ist auch der (mit einem Körnchen Salz gesagt) biedermeier-surralistisch anmutende Text „Im Puppenhaus“ von Pamela Steen, die nach ihrer Promotion als ARD-Tagesthemen-Redakteurin arbeitete und heute wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Leipzig ist. Wie bei vielen anderen Texten besonders gelungen, ist die passende Illustration hierzu von Mitredakteur und Buchillustrator Benjamin Bäder, die während der Lesung den Bühnenhintergrund bebildert und auch dem Beitrag im Heft vorangestellt ist. Dessen „editorische Linie“ bestimme „eine Mischung aus Mengenlehre und leidenschaftlichen Streitens“ so der verantwortliche Herausgeber Jan-Paul Laarmann – „und die ist (…) bei uns letztlich zumindest formal nicht avantgardistisch.“

„Zwei Nadelöhre zwingen uns zum Auswählen“, begründet Laarmann die redaktionelle Auswahl, „der Maximalumfang eines Heftes und die Länge einer Lesung.“ Neben der notwendigen Leserorientierung gebe es auch praktische Gründe: „Erst die Beschränkung auf 20 Texte macht das Heft für die Leser zugänglich“, so Jan-Paul Laarmann weiter; „eine große Anthologie würden wir nur schwer verkaufen können, ganz davon ab, dass wir das auch zeitlich kaum leisten könnten.“ Was die Richtung des Projekts angeht, das sich keineswegs als „geschlossene Literaturgruppe“ versteht, gehe es weiterhin darum, „dass wir viele Debüts junger Autoren veröffentlichen, deren Potentiale schon sichtbar, aber vielleicht noch nicht ganz entfaltet sind.“ 

Wohin sich das „Richtungsding“ künftig entwickelt, steht derzeit im wahrsten Sinne des Wortes in den Sternen – klar ist jedenfalls, dass aus Kapazitätsgründen künftig nur noch ein Wettbewerb pro Jahr durchgeführt werden soll. Passenderweise heißt das Ausschreibungsmotto zum nächsten Heft „Rakete“: „Das Richtungsding durchstößt die Wolkendecke, verlässt den Orbit und dringt in Galaxien vor, von denen nie ein Mensch zuvor gelesen hat“, ist der Ausschreibungstext ambitioniert eingeleitet. Gesucht werden Texte aller Gattungen von maximal 2.000 Wörtern Länge (zu senden an rakete@richtungsding.de), Einsendeschluss ist der 30.09.2016. 

Ulrich Schröder

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