Altgediente Helden vom Sockel stoßen und ihnen gleichzeitig einen warmen Empfang auf dem Boden der Tatsachen zu bereiten, ist in Bochums Rottstr5-Theater derzeit schwer angesagt. Kürzlich zeigte sich das mit Konstanze Kappensteins „Othello", nun mit einer irrwitzigen Inszenierung von Homers „Odyssee", auf die Bühne gebracht von Jung-Regisseur Daniel Kunze.
Wer glaubt, die Co-Produktion von Studierenden des Folkwang-Studiengangs Schauspielregie und dem jungen Hinterhof-Ensemble „young'n'rotten" sei nichts als eine weitere postmoderne Götzenlästerung liegt weit daneben – die Inszenierung mag kurzweilig sein, hat aber gleichzeitig Tiefgang. Auch wenn man das vielleicht erst ganz zum Schluss versteht.
Dabei liegen die Zeichen dem Zuschauer schon ganz am Anfang zu Füßen: Die vier Schauspieler sitzen auf dem mit Erde bedeckten Bühnenboden, bauen Schlösschen aus Dreck, die bald eh wieder zerstampft werden, widmen sich Sandmalereien oder suchen – wie Lea Kallmeier – nach Essbarem zwischen all dem Schmutz. Odysseus (Maximilian Pulst) versucht die Geschichte seiner Abenteuer zu erzählen, will sich dem Publikum als Held verkaufen. Das unterläuft die Inszenierung bewusst von Anfang an, der Held Homers wird zur absurden Karikatur.
Auf dass das Kind was zutun hat
Das Absurde ist auch schließlich das philosophische Stichwort, das auf die Tiefenstrukturen der Inszenierung verweist: Als Odysseus und Anhang auf einer Insel stranden, wo berauschender Lotus blüht, zweifelt ein Gefährte (Tobias Amoriello von young'n'rotten) an der Sinnhaftigkeit der ganzen Unternehmung. Wen treiben schon Ziele, wenn der Lotus durch die Blutbahn ballert? Auf jeden Fall Odysseus, der auch weiß, was nach dem Erreichen der letzten Ziele kommt: das nächste Ziel. Und so weiter. Dass wir am Ende auf den berühmten, auf Camus' Philosophie des Absurden verweisenden Sysiphos treffen, macht den Zuschauer nachdenklich – Odysseus hingegen nicht.
Dass die berühmten Stationen der Odyssee – die Höhle des Zyklopen, die Reise in den Hades – so humorvoll in Szene gesetzt sind, trägt nicht nur (sehr gelungen) zur Unterhaltung bei. Der Abgesang auf das Held-Sein in jeder Form wird dadurch erst mit Genuss hörbar. Und am Ende verstehen wir endlich, dass wenn die Götter Odysseus auf die nächste Reise schicken, eigentlich nicht mehr wollen, als dieses egozentrische Kind zu beschäftigen, auf dass es endlich die Klappe hält. Hauptsache, der Junge hat was zu tun. Und am Ende widmen sich wieder alle den vergänglichen Malereien im Dreck zu ihren Füßen. Und wenn sich da noch was zu essen findet: Umso besser.
„Die Odyssee“ | R: Daniel Kunze | Do 14.4. | www.rottstr5-theater.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Zwischen Utopie und Ökoterrorismus
Tagung „Klimafiktionen“ in Bochum – Literatur 12/24
Nouvelle vague in der Katakombe
„Außer Atem“ am Bochumer Rottstr 5 Theater – Prolog 12/23
Widerstand ist machbar, aber unbeliebt
„Die fetten Jahre sind vorbei“ am Rottstr 5 Theater – Prolog 06/22
Wetterleuchten der Veränderung
Alexander Ritter inszeniert „Wir, Kinder der Sonne“
„Es geht nur noch darum, das irgendwie zu beherrschen.“
Auftakt der Bochumer Klimawoche von „correctiv“ am 4.11. in der Rottstr. 5 – Spezial 11/19
Mit Drogen locker durchs Leben
Huxleys „Schöne neue Welt“ in Bochum – Theater Ruhr 07/19
„Bullshit von der AfD“
Die Leitung des Bochumer Theaters Rottstr 5 über Fördergelder der freien Szene – Bühne 02/19
Stoisch sind die Salatköpfe
„Die Kopien“ am 12.10. am Rottstr5-Theater in Bochum – Bühne 10/18
Heute ein Mythos
„Die im Schatten leben“ vom Rottstr 5 Theater – das Besondere 07/18
Das Jahr beginnt mit Flüchen
Komödien sind nicht alles im Theater – Prolog 01/18
Deutschland mal zehn
„Deutschland Shorts“ bringt 10 Mini-Stücke im Depot und an der Rottstraße auf die Bühne – Theater 11/17
Szenische Revolution
Lukas Vogelsang mit Hamster in Bochum – Lesezeichen 09/17
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
Trance durch Kunst
Die Reihe Rausch 2 in Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 11/23
Brecht im Discounter
„Der gute Mensch von Sezuan“ am Grillo-Theater in Essen – Theater Ruhr 10/23
Bretter der Kulturindustrie
„Das Kapital: Das Musical“ im Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 10/23
Siehst du, das ist das Leben
„Der erste fiese Typ“ in Bochum – Theater Ruhr 06/23
Der gefährliche Riss in der Psyche
„Die tonight, live forever oder das Prinzip Nosferatu“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 04/22
Unberührbare Souveränität
Frank Wedekinds „Lulu“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 03/20
Totenmesse fürs Malochertum
„After Work“ in den Bochumer Kammerspielen – Theater Ruhr 02/20
Gespenstisches Raunen
Die Performance „Geister“ am Schauspielhaus Bochum – Theater Ruhr 02/20
Drei wilde C´s im Schnee
„After Midnight“ im Essener Grillo – Theater Ruhr 02/20
Von Büchern überschüttet
„Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ in Mülheim – Theater Ruhr 02/20
Tragödie mit Diskokugel
Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ in Oberhausen – Theater Ruhr 01/20
Ein hochemotionaler Spiegel
Khaled Hasseinis „Drachenläufer“ in Castrop-Rauxel – Theater Ruhr 01/20