Dass Gott ein DJ ist, wissen wir dank Faithless ja schon eine Weile. Petrus scheint aber auch ein Herz für elektronische Musik zu haben, da die Sonne den ganzen Tag über dem 19. Juicy Beats auf 33.000 Besucher im Dortmunder Westfalenpark hinab lächelt.
Mit den ersten Sonnenstrahlen wird es auch zu den Füßen des Florianturms voller. Lange Schlangen bilden sich, und wer im Vorverkauf kein Ticket ergattert hat, wartet vergeblich. Erstmals in der Geschichte des Juicy Beats war das Festival schon vorab restlos ausverkauft.
Dies merkt man auch deutlich, als Frittenbude-Frontmann Strizi Streuner die Main Stage mit „Raveland“ eröffnet. Der Remix des Kettcar-Songs „Graceland“, schon immer rhythmischer, tanzbarer und besser als das Original, ist der perfekte Opener. Die große Festivalwiese ist um 16 Uhr bereits so voll und bunt gefüllt wie vor einigen Jahren erst beim Headliner am Abend. Die besten Stücke aus allen drei Alben folgen, darunter „Irgendwie lieb ich das“, „Und täglich grüßt das Murmeltier“, „Einfach nicht leicht“ oder „Wings“. Strizi alias Johannes Rögner, Martin Steer und Jakob Häglsperger gehören schon lange nach Berlin und sind so gar nicht mehr Geisenhausen.
Ein bisschen müffelt es nach Mainstream. Gegen Nazis wird zwar agitiert, was in Dortmund noch mehr Sinn macht als anderswo. Die Vorratsdatenspeicherung ist Strizi aber selbst „egal“. Immerhin lässt Viva con Aqua von einem stagedivenden Schlauchbot aus Pfandbecher sammeln. Wenn zum Abschluss die ersten Beats von „Mindestens in 1000 Jahren“ anklingen, wird die nostalgische Erinnerung an ein kleines Konzert vor Jahren im Oberhausener Druckluft vor 20 Männekes wach. Als der erste Hit von Frittenbude durch das perfekte Soundsystem über die Köpfe von Tausenden geballert wird, ist das aber auch ganz nett. In spätestens tausend Jahren könnte das mit der Klassik durchaus hinhauen.
Treiben lassen
Unweit im Zirkuszelt verausgaben sich derweil die Österreicher von Bilderbuch und verdampfen vermutlich mit ihren Fans. Statt sich für die letzten Lieder dort hinein zu quetschen, lohnt ein Bummel durch die weitläufige Anlage. Auf dem Juicy Beats gibt es auch abseits der Bühnen viel zu entdecken. Vielleicht trügt mich meine Erinnerung, aber waren die Blumenbeete immer schon durch Bauzaunkäfige gesichert? Das Festival ist aber trotz des über die Jahre stetig gewachsenen Andrangs eine extrem entspannte Veranstaltung geblieben. Zahlreiche Lauben und Teiche laden zum Schlendern und Verweilen ein. Überall chillen kleine Grüppchen im Gras oder tanzen im Schatten, während von der Funkhaus Europa-Bühne Kuenta i Tambu mit afrikanisch-karibischen Beats einheizen. Unweit des Reggae-Floors jongliert ein Kellner in der Strandbar mit Orangen.
Andere flanieren schaulaufend im Spiderman-Ganzkörperkondom oder am besten gleich halbnackt umher. Selbst die Sicherheitskräfte scheinen größtenteils auffällig tiefenentspannt. Einige sind an der Mainstage schon bei Frittenbude arg zappelig gewesen und haben krampfhaft versucht, das ihnen auferlegte Tanzverbot einzuhalten. Hip zu wippen erhöht bei alkoholisierten Jugendlichen wohl nicht die Autorität. Wenn die Securities die Wasserflaschen in den ersten Reihen vor der Bühne verteilen, erscheinen sie im gleißenden Gegenlicht auch schon mal wie engelsgleiche Erlöser.
Vor den Headlinern Alligatoah und Boys Noize bleibt die Gelegenheit, sich zu stärken. Couscous, Chinanudeln, Falafel oder afrikanische Spezialitäten – alles wird probiert und für gut befunden. Wie schon im letzten Jahr sind die freien Trinkwasserstellen die beste, kostenlose Innovation.
Believe the Hype!
Um 19 Uhr wird es dann richtig voll vor und auf der Mainstage. Rechts auf der Bühne steht ein riesiger, dampfender Topf auf einem Herd, links eine Dusche. In der Mitte mündet eine kleine Showtreppe vor einer samtig-roten Wand, an der in goldenen Barockrahmen weltbekannte Gemälde in leicht abgewandelter Form prangen. Die Gesichtszüge der bärtigen Mona Lisa erinnern frappierend an den Rapper, auf den alle warten. Doch zunächst kommt Butler Basti, alias Battleboy Basti in schwarzer Livree und kündigt Alligatoah an. Der hüpft in weißer Hose, bunt gestreiftem Jackett und Hut auf die Bühne, als wollte er einen Sonntagspaziergang vor hundert Jahren unternehmen. Zum Auftakt zertrümmert er in Rock’n’Roll-Manier erstmal eine Gitarre.
Alligatoah, alias Kaliba69, alias DJ Deagle alias Lukas Strobel geht die in Rapperkreisen oft zitierte Streetcredibility sichtlich am Arsch vorbei. Ihn als Gentleman-Rapper zu bezeichnen wäre aber weit gefehlt. Beim Opener „Narben“ mag das noch nicht so offensichtlich sein. Aber wenn er in „Wer weiß“ in der Bridge immer wieder „Robbenschlachten“ singt und sich als „geistig behindert vor Liebe“ bezeichnet, bekommt man eine leise Ahnung davon, was einen hier noch erwartet.
Richtig fein wird es dann in „Amnesie“: „Hallo Schatz, ich hab ein' Pavian gefickt heut Nacht / Keine Angst, ich hab' dabei an dich gedacht / Du musst wissen, dass das ein Ausrutscher war, manchma' rutscht mir mein Schwanz in eine Frau, huppsala!“.
Alligatoahs Texte sind aber nicht nur derb, sondern auch derbe bissig. Weder vor Religion („Mein Gott macht die Menschen selig / mein Gott hat den längsten Penis“) noch Familie („Rabenväter“ im Battlerap mit Butler Basti) oder Liebe macht er halt. Was Alligatoah da auf der Bühne vollführt ist nicht nur extrem unterhaltsam, sondern auch geniale Satire. Würde die Musik fehlen, wäre er ein Stand-Up Comedian. Musik ist bei ihm aber nicht nur Nebensache. Die Regeln des Rap sind dem Bremerhavener Jung dabei völlig wurscht. Er kann präzise rappen, sein Gesang ist aber auch nicht übel. Musikalisch ist der Mann dann auch noch ziemlich gut, mischt unbedarft Stile und Genres. Außerdem spielt er Gitarre, weshalb seine Stücke auch gut als Akustik-Version funktionieren. Derlei Zurückhaltung ist ihm aber bei seinem Juicy Beats-Auftritt fremd. Hier wird nicht nur geklotzt statt gekleckert, hier wird gekotzt, und zwar aus Kübeln.
Mancher mag die vielen Rollenwechsel platt, die Texte als Provokation um der Provokation willen empfinden. Wenn er in „Willst Du“ von seinem aktuellen Album „Triebwerke“ romantisch fragt „Willst du mit mir Drogen nehmen? / Dann wird es rote Rosen regnen“ und tausende Jugendliche die Hook mitbrüllen, stimmt das schon nachdenklich. Schaut man sich so um, scheint die ironische Note bei der Masse nicht immer anzukommen. Selbst wenn die Auseinandersetzung mit den Texten ausbleibt, so ist die Hook „Komm, wir geh'n, komm, wir geh'n / zusamm'n den Bach runter / Denn ein Wrack ist ein Ort, an dem ein Schatz schlummert“ ein Beispiel, dass der Schelm auch sprachlich so fein sein kann, dass es fast nach moderner Lyrik klingt.
Aber auch der derbste Fäkalwitz geht dem charmanten Bengel so leicht über die Lippen, dass ein Augenzwinkern genügt, um alles wegzulächeln. Was der Badboy mit dem Äußeren eines nerdig-putzigen Schwiegermutterlieblings auf dem Juicy Beats abfeiert, ist große Kunst in Musik und Wortwitz. Chapaeu!
Als die Dämmerung einsetzt, stimmt ein anderer ganz Großer das Volk allmählich auf Party ein. Boys Noize ist der Position des Headliners mehr als würdig, das Fließen der perfekt gemischten Tracks findet seine visuelle Entsprechung in den flackernden Visuals, ab und an säumen ihn eruptierende Rauchfontänen. Der Erfolg hat den Hamburger DJ Boys Noize längst durch die Clubs dieser Welt geführt, er hat mit Größen wie Feist, Tiga, Depeche Mode oder Bloc Party gearbeitet, Remixe für Daft Punk, die Chemical Brothers oder Röyksopp gemacht und mehrere Alben veröffentlicht. Vom Rolling Stone-Magazin wurde er 2012 zu einem der zehn „DJs that Rule the World“ gekürt. Im Kontrast dazu steht da ein fast bescheidener Junge hinter dem Mischpult. Sein breiter werdendes Grinsen scheint weder von Erfolg und Auszeichnungen, noch von den tausenden, in seinem Takt wogenden Leibern zu kommen. Er genießt schlicht die puren Freude an der Musik.
Aufhören, wenn es am Schönsten ist?
Während sich zu den ohnehin schon 30.000 Besuchern nach Einbruch der Dämmerung nochmal 3.000 gesellen, um sich bis zum Morgengrauen kopfüber in die Partyszene zu stürzen, bietet die Seebühne einen ruhigeren Ausklang für inzwischen fußlahm Gewordene. Das Filmstudenten-Kollektiv I am here der FH Dortmund hinterfragt nach Einbruch der Dunkelheit mit körnigen Aufnahmen die Position des analogen Materials in einer digitalisierten Welt, bevor um Mitternacht die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen ein Best-Of der MuVi-Awards präsentieren. Im high-tech Open-Air-Kino spürt man wie allerorts auf den Juicy Beats, dass sich das Festival zu professioneller Perfektion entwickelt hat. Fast beruhigt es ein bisschen, dass die Musikclip-Vorführung mehrfach unterbrochen werden muss, bis die Scheinwerfer ausgeschaltet, das Umgebungslicht gedimmt und der Sound richtig justiert ist.
Denn was soll noch kommen, angesichts der satten Ernte an fruchtigen Lorbeeren, die die 19. Auflage der Juicy Beats eingefahren hat? Aufhören, wenn es am Schönsten ist? Mitnichten. Das 20. Jubiläum wird erstmalig mit zwei Tagen Festival gefeiert. Auf der Pressekonferenz wurde bereits bekannt gegeben, dass der Samstag der klassische Juicy Beats-Tag wird, während der Freitag mit einer besonderen Überraschung aufwarten soll. Karten für 2015 gibt es übrigens bereits im Vorverkauf.
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