Die Schwärmerei für die Natur kommt von der Unbewohnbarkeit der Städte. Also hat Suse Wächter, eine von Deutschlands renommiertesten PuppenbauerInnen und -spielerInnen ihren Brecht in Oberhausen in eine Schlaflandschaft gebettet, von wo aus das Publikum einer seiner denkwürdigen Theaterproben beiwohnen darf, während der Meister per Zeitmaschine ins 21. Jahrhundert katapultiert wird und dort seltsame Erfahrungen machen darf. Zusammen mit der Puppenspielerin Tine Hagemann und drei Ensemblemitgliedern des Oberhausener Theaters tauchen die Zuschauer ein in die Welt eines der „Helden des 20. Jahrhunderts", eine Menge Puppen, die die Puppenspielerin auf der Bühne schon lange begleiten. Dass auch „Schlafen eine Form von Kritik, besonders im Theater“ (Brecht) sein kann, könnte nach den anstrengenden zwei Schulstunden bewiesen sein. Zumindest ein zentrales Element der Brechtschen Theaterarbeit, der sogenannte Verfremdungseffekt, wird hängen bleiben, er wird schließlich erklärt, visualisiert und von den vier Musen (klar dass es bei Brecht nur Frauen sein dürfen) vorgespielt.
Dabei hatte Suse Wächter alle Möglichkeiten in der Hand, nicht nur den kleinen Puppen-Brecht mit kalter Zigarre, sondern auch die Hoheit über den Text, der als Zitatenbuch und Gedankenanker mit auf dem riesigen Bett allgegenwärtig zugegen war. Es geht also los mit „Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern“ und wohligem Räkeln zwischen dicken Kissen. Die Probenarbeit steht am Anfang der Inszenierung, eine Probe, die natürlich nie stattfinden wird, weil der Meister und seine Jünger sich erst einmal warmtheoretisieren müssen angesichts der Kälte der Wälder und des Fehlens von Rechten der Brecht-Erben. Im Hintergrund leuchtet nicht der Mond von Alabama, sondern ein unscharfes Tabletsurface, mit dem die Eleven den Meister mit den Mechanismen der neuen Welt bekannt machen. Beim Videospielchen versagt er, beim dilettantischen Rap versagt er die Aufmerksamkeit, nur das eingespielte „Raumschiff Enterprise“-Holodeck der „Generation Future“ sagt ihm wohl zu, bringt es ihn doch zusammen mit Laotse und Nietzsche, zwei weiteren Wegweiser-Puppen aus seiner polarisierenden Theatertheorie, zu der es bis heute keine Entsprechung gibt. Es ist ein schöner Abend, mit viel Witz, Helge Schneider, in dem Brecht Karl Valentin entdeckt, und ein paar Längen, die aber wegen der Kampagne fürs Rauchen entschuldigt sind.
„Brecht“ I 17.11./6.12./13.12./19.12. I Theater Oberhausen I www.theater-oberhausen.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Karriere eines Massenmörders
Premiere am Theater Oberhausen
Der Held im Schwarm
„Swimmy“ am Theater Oberhausen – Prolog 10/24
Wüste des Vergessens
„Utopia“ am Theater Oberhausen – Prolog 09/24
„Es ist ein Weg, Menschen ans Theater zu binden“
Regisseurin Anne Verena Freybott über „Der Revisor kommt nach O.“ am Theater Oberhausen – Premiere 06/24
„Zero Waste“ am Theater
Das Theater Oberhausen nimmt teil am Projekt Greenstage – Theater in NRW 06/24
Von der Straße ins Theater
„Multiversum“ am Theater Oberhausen – Prolog 04/24
Mackie im Rap-Gewand
„MC Messer“ am Theater Oberhausen – Tanz an der Ruhr 04/24
Vom Elvis zum Cowgirl
„The Legend of Georgia McBride“ am Theater Oberhausen – Prolog 02/24
„Die Geschichte wurde lange totgeschwiegen“
Ebru Tartıcı Borchers inszeniert „Serenade für Nadja“ am Theater Oberhausen – Premiere 01/24
Multiple Zukünfte, sinnlos zerstört
„Die Brücke von Mostar“ am Theater Oberhausen – Prolog 09/23
Antworten, die verschwiegen werden
„And now Hanau“ in einem Oberhausener Ratssaal – Prolog 09/23
Folgerichtiger Schritt
Urban Arts am Theater Oberhausen – Theater in NRW 08/23
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 01/25
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
Trance durch Kunst
Die Reihe Rausch 2 in Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 11/23
Brecht im Discounter
„Der gute Mensch von Sezuan“ am Grillo-Theater in Essen – Theater Ruhr 10/23
Bretter der Kulturindustrie
„Das Kapital: Das Musical“ im Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 10/23
Siehst du, das ist das Leben
„Der erste fiese Typ“ in Bochum – Theater Ruhr 06/23
Der gefährliche Riss in der Psyche
„Die tonight, live forever oder das Prinzip Nosferatu“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 04/22
Unberührbare Souveränität
Frank Wedekinds „Lulu“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 03/20
Totenmesse fürs Malochertum
„After Work“ in den Bochumer Kammerspielen – Theater Ruhr 02/20
Gespenstisches Raunen
Die Performance „Geister“ am Schauspielhaus Bochum – Theater Ruhr 02/20
Drei wilde C´s im Schnee
„After Midnight“ im Essener Grillo – Theater Ruhr 02/20
Von Büchern überschüttet
„Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ in Mülheim – Theater Ruhr 02/20
Tragödie mit Diskokugel
Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ in Oberhausen – Theater Ruhr 01/20