Der legendäre Schweizer Filmverleiher Erwin C. Dietrich hatte für seine eingekauften Filme, vor allem für die sogenannte, heute schmerzlich vermisste „Mittelware“, eine klare Vorgabe: Sie durften 90 Minuten Spielzeit nicht überschreiten. Taten sie das doch, setzte er die Schere an und suchte sich möglichst ruhige Szenen aus, um diese einfach rauszuschneiden.
Ähnlich wie Dietrich arbeiteten auch zahllose andere BRD-Verleiher. Der Hintergrund: Die Filme sollten möglichst einfach in die Programmschienen der Kinos passen, also etwa in den 2-Stunden-Rhythmus der Center oder Bahnhofskinos oder in die Extra-Nachmittags- und Spätprogramme, die nur ungern um ein paar Minuten nach hinten verschoben wurden.
90 Minuten – das war die perfekte Länge für einen Spielfilm. Schaut man sich in diesen Tagen den geballten Content im Fernsehen und Internet an, merkt man schnell: Wir sind in einer Schnipsel- und Serienhölle gefangen. Entweder müssen wir im Sekundentakt irgendwelche Breaking News über uns ergehen lassen – samt endloser Panikmeldungen, Warnungen, Drohungen, Kommentare. Oder wir sollen Serien schauen, die uns ganze Tage und Wochen kosten.
Ins Fernsehen, wo die Vermittlung der Spielfilmkultur mal zum guten Ton, um nicht zu sagen, zum Programmauftrag gehörte, ist längst ein Dauergebrabbel mit nicht enden wollenden Talkshows eingezogen, deren Nährwert gegen null tendiert. Programmverantwortliche stellen sich sogar stolz hin, um auf neue Sehgewohnheiten zu verweisen und die Bedeutung des Spiel- und Kinofilms kleinzutalken. Es gibt doch den „Tatort“ am Sonntag, wird dann gerne mit diabolischem Lächeln gesagt, das ist doch 90 Minuten Spielfilmlänge mit viiiiel Qualität.
Das Kino, da darf man sich keine Illusionen mehr machen, muss die Bedeutung des Spielfilms nun allein vermitteln. Immerhin gibt es bei den besseren Streaming-Anbietern ein Bewusstsein für die Kinogeschichte – und man kann tatsächlich, abseits der neuesten Hollywoodhits, auch ein paar Klassiker entdecken, die tröpfchenweise auch jüngere Menschen erreichen und das Glück des 90-Minuten- oder 2-Stunden-Films offenbaren.
Eine abgeschlossene Geschichte, perfekte Dialoge, zu Tränen rührende Happy oder Sad Endings, Darsteller:innen, die nicht jeden Tag woanders zu sehen sind … es gibt so viele Aspekte, die einen Spielfilm besonders machen. Vor allem aber rauben Kinofilme kaum Zeit. Sie geben Impulse fürs eigene Leben. Sie rufen eigentlich immer dazu auf, die eigene Komfortzone zu verlassen und sich ins wahre Leben zu stürzen.
Dass ausgerechnet die Jugend gerade Fatih Akins Spielfilm „Rheingold“ feiert, ist jedenfalls die beste Werbung für klassischen 2-Stunden-Content, die man sich vorstellen kann. Nehmt das, ihr TikTok-Videos und Kommentarspalten, Gesprächsrunden und Krimi-Wüsten.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Besuchen Sie Europa
Die Studie Made in Europe und ihre Folgen – Vorspann 12/24
Filmfestivalmonat November
Mit der Duisburger Filmwoche, Doxs! und dem Blicke – Filmfestival des Ruhrgebiets – Vorspann 11/24
Reise in die Seele des Kinos
Die Ausstellung „Glückauf – Film ab“ in Essen – Vorspann 10/24
Programmkollaps
Vergraulen immer komplexere Kinoprogramme das Publikum? – Vorspann 09/24
Zurück zum Film
Open-Air-Kinos von Duisburg bis Dortmund – Vorspann 08/24
„Poor Things“, reiches Cannes
Eine Bilanz der ersten sechs Kinomonate – Vorspann 07/24
Ewige Stadt, ewiges Kino
In Rom werden aus alten verlassenen Kinos wieder Kinos – Vorspann 06/24
Der Kurzfilm im Rampenlicht
Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen 2024 – Vorspann 05/24
„Viel Spaß beim Film“
Vom Ende der Platzanweiser:innen – Vorspann 04/24
Was läuft im Kino?
Über die Programmierkunst echter und gespielter Helden – Vorspann 03/24
Prognose: Lachstürme
Die Komödie findet endlich ins Kino zurück – Vorspann 02/24
Emanzipation und Alltag
Starke Protagonistinnen im Januar – Vorspann 01/24
„Das Ruhrgebietspublikum ist ehrlich und dankbar“
Oliver Flothkötter über „Glückauf – Film ab!“ und Kino im Ruhrgebiet – Interview 12/24
Hagener Bühne für den Filmnachwuchs
„Eat My Shorts“ in der Stadthalle Hagen – Foyer 11/24
Ruhrgebietsfilmgeschichte erleben
„Glückauf – Film ab!“ im Essener Ruhr Museum
Zermürbte Gesellschaft
choices preview zu „Critical Zone“ im Odeon – Foyer 11/24
Die ganze Palette Kino
9. European Arthouse Cinema Day – Festival 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Liebe und Macht
choices preview zu „Power of Love“ in der Filmpalette – Foyer 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
„Die Geschichte ist jetzt unfassbar aktuell“
Regisseur Andreas Dresen über „In Liebe, Eure Hilde“ – Gespräch zum Film 10/24