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Rüdiger Schmidt-Sodingen

Fatihs Punch

29. November 2022

Nicht das Kino muss gerettet werden, sondern der Spielfilm – Vorspann 12/22

Der legendäre Schweizer Filmverleiher Erwin C. Dietrich hatte für seine eingekauften Filme, vor allem für die sogenannte, heute schmerzlich vermisste „Mittelware“, eine klare Vorgabe: Sie durften 90 Minuten Spielzeit nicht überschreiten. Taten sie das doch, setzte er die Schere an und suchte sich möglichst ruhige Szenen aus, um diese einfach rauszuschneiden.

Ähnlich wie Dietrich arbeiteten auch zahllose andere BRD-Verleiher. Der Hintergrund: Die Filme sollten möglichst einfach in die Programmschienen der Kinos passen, also etwa in den 2-Stunden-Rhythmus der Center oder Bahnhofskinos oder in die Extra-Nachmittags- und Spätprogramme, die nur ungern um ein paar Minuten nach hinten verschoben wurden.

90 Minuten – das war die perfekte Länge für einen Spielfilm. Schaut man sich in diesen Tagen den geballten Content im Fernsehen und Internet an, merkt man schnell: Wir sind in einer Schnipsel- und Serienhölle gefangen. Entweder müssen wir im Sekundentakt irgendwelche Breaking News über uns ergehen lassen – samt endloser Panikmeldungen, Warnungen, Drohungen, Kommentare. Oder wir sollen Serien schauen, die uns ganze Tage und Wochen kosten.

Ins Fernsehen, wo die Vermittlung der Spielfilmkultur mal zum guten Ton, um nicht zu sagen, zum Programmauftrag gehörte, ist längst ein Dauergebrabbel mit nicht enden wollenden Talkshows eingezogen, deren Nährwert gegen null tendiert. Programmverantwortliche stellen sich sogar stolz hin, um auf neue Sehgewohnheiten zu verweisen und die Bedeutung des Spiel- und Kinofilms kleinzutalken. Es gibt doch den „Tatort“ am Sonntag, wird dann gerne mit diabolischem Lächeln gesagt, das ist doch 90 Minuten Spielfilmlänge mit viiiiel Qualität.

Das Kino, da darf man sich keine Illusionen mehr machen, muss die Bedeutung des Spielfilms nun allein vermitteln. Immerhin gibt es bei den besseren Streaming-Anbietern ein Bewusstsein für die Kinogeschichte – und man kann tatsächlich, abseits der neuesten Hollywoodhits, auch ein paar Klassiker entdecken, die tröpfchenweise auch jüngere Menschen erreichen und das Glück des 90-Minuten- oder 2-Stunden-Films offenbaren.

Eine abgeschlossene Geschichte, perfekte Dialoge, zu Tränen rührende Happy oder Sad Endings, Darsteller:innen, die nicht jeden Tag woanders zu sehen sind … es gibt so viele Aspekte, die einen Spielfilm besonders machen. Vor allem aber rauben Kinofilme kaum Zeit. Sie geben Impulse fürs eigene Leben. Sie rufen eigentlich immer dazu auf, die eigene Komfortzone zu verlassen und sich ins wahre Leben zu stürzen.

Dass ausgerechnet die Jugend gerade Fatih Akins Spielfilm „Rheingold“ feiert, ist jedenfalls die beste Werbung für klassischen 2-Stunden-Content, die man sich vorstellen kann. Nehmt das, ihr TikTok-Videos und Kommentarspalten, Gesprächsrunden und Krimi-Wüsten.

Rüdiger Schmidt-Sodingen

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