Am 20. Juli 1944 explodierte im Führerhauptquartier Wolfsschanze eine Sprengladung, die dem selbsternannten Führer Nazi-Deutschlands höchstpersönlich galt. Platziert hatte sie der Wehrmachtsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der gemeinsam mit weiteren Verschwörern den Umsturz plante. Aber der Versuch schlug fehl: Adolf Hitler überlebte das Attentat mit leichten Verletzungen und das nationalsozialistische Regime hielt an.
Heute verbinden viele Menschen mit dem Namen Stauffenberg einen mutigen Akt des Widerstands, der unnötiges Leid hätte verhindern können. Doch der Offizier war nur ein Akteur von vielen: In ihrem Buch „Das deutsche Alibi“ geht Journalistin Ruth Hoffmann der Frage nach, inwiefern die Fokussierung auf Stauffenberg als Heldenfigur die tatsächliche politische und soziale Vielfalt des Bündnisses gegen die NS-Führung verschleiert – dass circa 200 Menschen aller Schichten und verschiedenster politscher Ansichten an dem Attentat beteiligt waren, wissen auch in Deutschland die wenigsten. Darüber hinaus beleuchtet das Buch Konflikte innerhalb der Erinnerungskultur. Denn in der Nachkriegsgesellschaft war der 20. Juli lange Zeit ein schwieriges Thema, da er offenbarte, dass die Grauen des NS-Regimes durchaus bekannt waren und Widerstand möglich war. Gleichermaßen konnte die Operation Walküre und ihre Umfunktionierung zum Staatsstreich auch als Alibi herhalten: Das Attentat auf Hitler war ein vermeintlicher Beweis dafür, dass nicht alle Deutschen Nazis waren – auch nicht alle Beamten und Berufssoldaten. Dabei geriet jedoch in Vergessenheit, dass die ursprüngliche Widerstandsbewegung kommunistisch, sozialistisch und sozialdemokratisch geprägt war. Hoffmann sieht in dieser Verdrängung eine bewusste Strategie – schließlich gehörten der ersten Bundesregierung unter Konrad Adenauer auch einige ehemalige NSDAP-Mitglieder an und die BRD stand im Systemkonflikt mit dem Osten. Während in der DDR der kommunistische Widerstand gegen den Nationalsozialismus gewürdigt wurde, entstand im Westen der Mythos Stauffenberg. Auch unter rechten Akteuren war und ist die Idee eines „Aufstands des Gewissens“ populär: Heutzutage beansprucht sogar die AfD für sich, in der Tradition Stauffenbergs zu stehen.
„Das deutsche Alibi“ wurde für den Deutschen Sachbuchpreis 2024 nominiert und mit dem Sachbuchpreis der Zeit Stiftung Bucerius 2024 ausgezeichnet. Am 29. April liest Ruth Hoffmann in der Bibliothek des Fritz Bauer Forums aus dem Buch und spricht im Anschluss mit der Herausgeberin und Leiterin des Fritz Bauer Forums, Irmtrud Wojak.
Ruth Hoffmann: Das deutsche Alibi | Di 29.4. 18 Uhr | Fritz Bauer Bibliothek, Bochum | fritz-bauer-forum.de
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