Neulich tauchte in meinem Newsfeed der Link zu einem Text über Todd Phillips „Joker“ aus der „Welt“ auf. Ein Bekannter hatte ihn mit dem Vermerk, das sei die beste Kritik, geteilt. Mich ärgerte an dem Text nicht, dass die Autorin den Film verriss. Es war die Art, wie sie es tat. Nichts über die visuelle und narrative Art, mit der der Film die Genese des ultimativen Batman-Bösewichts erzählt, scheint ihr erwähnenswert. Allein ihre Meinung, beliebige Plotfragmente und eine Schelte gegen das deutsche Feuilleton, das den Film zu Unrecht hochgejubelt habe, ergeben ihre sogenannte Kritik. Was mich jedoch besonders ärgerte war, dass sie sich rühmte, den Film vorzeitig verlassen zu haben.
Nun ist eine Kritik – egal ob sie einen Film, eine Theaterinszenierung, ein Buch oder ein Konzert bespricht – stets subjektiv gefärbt. Wir alle schleppen unseren seelischen Ballast und unsere Tagesform mit ins Kino. Aufgeschlossen und unvoreingenommen gegenüber jeder neuen Filmerfahrung zu sein, ist aber ebenso Aufgabe der Kritik wie der Versuch, diese subjektive Erfahrung nachvollziehbar für LeserInnen zu begründen: Wie hat der Film mit mir gemacht, was er gemacht hat? Warum hat er mich erzürnt, begeistert oder zum Weinen gebracht? Oder auch den Wunsch in mir geweckt, den Blick frühzeitig abzuwenden? Über Stanley Kubrick heißt es, er habe die meisten Filme, die er sah, gehasst, aber alle bis zum Ende angeschaut. Wer eine Filmvorführung vorzeitig verlässt und dann darüber urteilt, hat weder Respekt vor der immensen Teamleistung, die dahinter steckt, noch vor der Kunstform an sich.
Mich selbst hat in diesem Monat besonders Teona Strugar Mitevskas „Gott existiert, ihr Name ist Petrunya“ beeindruckt. Die nordmazedonische Regisseurin erzählt darin die Geschichte von Titelheldin Petrunya, die trotz Studium weder Job noch Mann vorweisen kann und bei ihren Eltern wohnt. Nach einem richtig miesen Tag stürzt sie sich in die Fluten eines eiskalten Flusses, um ein Holzkreuz zu fangen, das alljährlich am Dreikönigstag von einem Priester dort hinein geworfen wird. Bei dem Ritual nach dem Artefakt und somit nach dem Glück zu greifen, ist aber nur den Männern des Dorfes vorbehalten. Petrunya landet samt Kreuz auf dem Polizeirevier und ein Kammerspiel beginnt. Die Regisseurin komponiert jede Einstellung um ihre ungewöhnliche und eigenwillige Protagonistin. Wenn sie sich den Mantel über ihren üppigen Körper wirft, ohne sich das Gesicht zu waschen oder die Haare zu kämmen, mit der Fluppe im Mundwinkel zum leidigen Bewerbungsgespräch durch den grauen Schneematsch Nordmazedoniens stapft, ist sie so lässig wie James Dean. Petrunya ist nicht nur von Kamerafrau Virginie Saint-Martin fantastisch in Szene gesetzt, sie bringt uns auch dazu, die absurdeste Regel des Patriarchats („Das dürfen Frauen nicht, weil das nun mal schon immer so war“) zu hinterfragen und findet am Ende ihr Glück – ganz ohne Kreuz und Mann.
Ausführlichere Texte von Menschen, die Filmkritik und Kino als Profession ernst nehmen, finden Sie wie immer auf den folgenden Seiten. Bleiben Sie selbst bereit und offen dafür, sich überraschen zu lassen und etwas völlig Neues zu sehen, wenn Sie das nächste Mal ins Kino gehen. Kubrick hätte das gefallen.
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